Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
MERS

MERS

Titel: MERS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D.G. Compton
Vom Netzwerk:
Hart? War ich hart? Ich blickte über die
zerfressenen Steine der Zinnen hinaus, horchte in die Stille hinein,
horchte auf den Frieden. Ich spürte Freiheit. Es war, als ob
eine ungeheuerliche Tyrannei zerbröckelt wäre. Der Krieg
hatte ein Ende gefunden. Frauen hatten den Krieg besiegt.
    Mein Glücksgefühl kühlte ab, wie Schweiß auf
meiner Haut. Hatte mich die Äbtissin einfach bloß hier
heraufgebracht, um ihre Freude zu teilen? Unten im Arbeitszimmer
hatten wir von meiner Therapie gesprochen.
    »Ich soll meinen Impfstoff rechtfertigen.« Meine Zunge
lag mir wie Blei im Mund. »Das Syndrom hat uns sinkende
Bevölkerungszahlen beschert, und jetzt das Ende des Kriegs. Ich
soll meinen Impfstoff rechtfertigen.«
    Sie blickte mich scharf an. Mir sank das Herz.
    »Sie sind sehr ehrlich«, sagte sie. »Nur eine sehr
ehrliche Frau würde versuchen, mir meine Stille mit
Rechtfertigung und Unerläßlichkeit zu
zerstören…« Der Ausdruck gefiel ihr. Sie kaute darauf
herum, wurde nachgiebig, lächelte, wurde eine freundliche,
kahle, alte Frau mit großen Zähnen, die ein schäbiges
blaues Gewand trug.
    »Ihre Mutter sagte mir, sie hätte einstmals
Schauspielerin werden können. Ich ebenfalls. Darum sind wir hier
heraufgekommen, wegen der Theatralik. Nicht wegen eines
Katechismus.« Sie beugte sich näher zu mir. »Aber mir
gefällt Ihre Intention. Sie sind ehrlich, aber mir gefällt
Ihre Intention. Und natürlich werden wir Ihrer Tochter Schutz
gewähren. Das ist unsere Pflicht. Wenn Sie ein Ungeheuer gewesen
wären, könnten wir uns dennoch nicht weigern.«
    Sie tätschelte mir die Hand mit der aufgeklebten Abschirmung.
Bestärkend, wie eine Mutter ein verwirrtes Kind ermutigt –
du kannst das schon! Und was es auch immer war, genau jenen
Augenblick lang konnte ich es.
    Ich hatte gedacht, wir würden wieder hinabgehen, aber sie
hatte noch nicht genug von der Stille gehabt. Sie kehrte zu ihr
zurück, wobei sie mich, da bin ich mir sicher, vergaß. Ich
behielt meine ketzerischen Gedanken für mich, aber sie
vermehrten sich. Kein Frieden, dachte ich, sondern vielmehr das
Fehlen von Kriegen. Selbst so immerhin etwas. Ich stand neben ihr
– was wäre, wenn meine durch den Impfstoff hergestellten
Leiber vor eifrigen kleinen Soldaten nur so barsten? Was dann? Ich
wußte es nicht. Ich war wieder aufrichtig.
    Wir gingen die Wendeltreppe in das Arbeitszimmer der Äbtissin
hinab. Ich sorgte dafür, daß Anna, von Mark hergebracht,
am folgenden Tag gegen Mittag im Kloster aufgenommen würde. Ich
schickte sie mit Mark, weil die Sache folgendermaßen stand: je
rascher ich einen vollen Tag an meinem Artikel arbeiten konnte, desto
rascher könnte Natur ihn veröffentlichen und desto
rascher wäre die ganze Affäre vorüber. Und
außerdem wäre er im Zug ein besserer Aufpasser für
sie.
    Wieder in Mantel und Handschuhen bat ich um eine Besichtigung der
Schule. Anna erwartete nicht viel von einigen wenigen Wochen in einer
Klasse an einer fremden Schule, aber sie hatte vernünftig
gesagt, sie würde lieber Unterricht haben als herumsitzen und
Däumchen drehen. Die Schule war sehr ordentlich. Sie glaubte
deutlich an den Neuen Autoritarismus – sie hatte
tatsächlich nie damit aufgehört, an den alten zu glauben.
Schließlich hatte sie Oma beschäftigt, die niemals viel
von der Benehmt-euch-völlig- ungezwungen-Mentalität des
letzten Jahrhunderts gehalten hatte.
    Nach der Besichtigung blieb ich noch lange genug, um der
Äbtissin einen Scheck auszuschreiben, und verabschiedete mich
dann. Mama bekam ich nicht mehr zu Gesicht. Sie verbrachte ihre
Nachmittage in der Videobibliothek, und die Äbtissin sagte, sie
nähme ihre Arbeit sehr ernst. Ihre Arbeit im Haus der
Illusionen. Wenig änderte sich. Nur daß für Mama
alles viel besser geworden war. Es war ihr gelungen, nur ein
bißchen meschugge zu werden – Nord-Nordwest, wie Hamlet.
Sie war hinausgetreten, aber sie konnte wieder eintreten, wenn die
Ereignisse ihre Anwesenheit erforderten. Ereignisse wie
Wahrheitsliebe. Was für die Nicht-Wahrheitsliebenden hart,
jedoch großartig für Mama war. Glückliche Mama.
    Hart? War ich hart?
    Es war fünfzehn Uhr dreißig und dämmrig, als ich
den Zug nach Hause bestieg. Eis glitzerte bereits auf seinem Dach.
Die Nacht brach an, während wir in die Berge hinaufstiegen. Ich
blickte mich einmal um, sah die Lichter draußen auf der Insel.
Falls ich mit einem männlichen Fötus schwanger ginge,
würde ich ihn behalten. Marks Sohn würde niemals

Weitere Kostenlose Bücher