Messertänzerin
Muskeln der alten Frau wieder und ihre Augen waren wieder klar.
»Unter meiner Matratze … dir gehört …« Sie schien noch viel mehr sagen zu wollen, aber ihre Stimme war zu brüchig für viele Worte. »Sag es nicht Maita!«, fügte sie noch beinahe trotzig hinzu. Der Druck ihrer Hand ließ nach und ihr Blick verlor sich im Nachthimmel. Divya spürte, dass ein Teil von Seluria diesen Ort verließ, und sie hatte das Gefühl, unendlich allein zu sein.
»Was ist passiert?«, rief eine herrische Stimme von oben herunter.
Maita stand an der Brüstung. Offenbar hatte sie bis jetzt gebraucht, um sich anzuziehen und um ihre Tür zu öffnen.
Divya erhob sich. Unfähig zu sprechen deutete sie auf Selurias Körper. Als Maitas fragender Blick sie regelrecht durchbohrte, raffte sie sich auf und ging über die Steinstufen hinauf in den ersten Stock. Dort schilderte sie derSchulleiterin etwas wirr, was geschehen war, und Maitas Gesicht wurde immer blasser.
»Warum hat sie das nur getan?«, fragte sie leise.
»Sie wollte Sadas Pergament beschützen«, erwiderte Divya tonlos, und sie hätte gern hinzugefügt, was für eine sinnlose Verschwendung das war. Aber Seluria hatte eine Entscheidung getroffen und die wollte sie nicht beschmutzen.
»Lauf auf die äußere Agida und ruf laut nach der Stadtwache!«, befahl Maita. Divya wollte es gerade tun, als ein Geräusch sie herumfahren ließ.
»Nicht mehr nötig«, sagte die Stimme eines Mannes.
Divya erstarrte, als wäre ihr Innerstes eiskalt geworden. Vor ihr stand der Dieb, dessen Seil sie in die Tiefe geworfen hatte. Das Mondlicht traf auf seine Züge und zeigte ihr, dass er noch sehr jung war, nicht viel älter als sie selbst. Seine Augen waren dunkel, ein starker Gegensatz zu seinem hellbraunen Haar, und sein Hemd und seine Hose waren nicht schwarz, wie sie anfangs gedacht hatte, sondern braun. Die Farbe der Krieger und der Wachen. Außerdem trug er inzwischen einen Umhang über seiner Kleidung, den er zum Klettern vermutlich beiseitegelegt hatte.
Maita reagierte schnell und zog ihre gelbe Maske aus der Vesséla. Mit fliegenden Fingern versuchte sie die Bänder an ihrem Kopf zu befestigen, was ohne Hilfe fast unmöglich war. Divya stellte sich hinter sie und zog die Bänder fest. Als Dienerin brauchte sie selbst zum Glück keine Maske.
Maita hob den Kopf und stand so stolz wie eine Fürstentochter vor dem Fremden.
»Wer seid ihr? Und wie kommt ihr dazu, diese Schule mitten in der Nacht zu betreten?«
Der Mann senkte den Kopf und legte die linke Hand an die Brust.
»Verzeiht meine Eigenmächtigkeit. Ich gehöre zur Stadtwache und war auf meinem abendlichen Patrouillengang durch dieses Viertel. Auf einmal bemerkte ich einen schwarz gekleideten Mann an einem Seil an der Außenwand Ihrer Schule. Ich bin ihm aufs Dach gefolgt.«
Divya war bei dem Wort Stadtwache zusammengezuckt. Konnte es wahr sein? Hatte sie soeben das Seil von einem Mann der Wache in die Tiefe geworfen? Wenn er sie gesehen haben sollte, war das sicher ein Mordversuch! Stand darauf der Galgen?
»Und Ihr wart ganz allein auf Patrouille?«, fragte Maita schneidend.
Er schüttelte ernst den Kopf.
»Ich habe meine Männer aus Rücksicht auf diese Institution zurückgelassen. Sie haben inzwischen das Haus umstellt.«
»Dann haben sie den Einbrecher bereits gefasst?«
Sein Blick wurde dunkel. »Nein, leider nicht. Er ist nicht zurück auf die Straße gekommen, sondern auf das Dach eines Nachbarhauses gesprungen und dort weitergelaufen.«
Maita nickte, und Divya konnte von der Seite sehen, wie sie unter ihrer Maske die Gesichtsmuskeln anspannte.
»Wie schade, dass Sie den Eindringling nicht fragen können, woher er wusste, dass es heute etwas zu stehlen gab.« Ihre Stimme klang wütend.
Der Wächter räusperte sich. »Nun, in letzter Zeit hat es einige Einbrüche in öffentliche Gebäude gegeben, und in mehreren Fällen waren es Tassari, die ihr Viertel unerlaubt verlassen hatten. Sie beobachten ihr Ziel recht genau, bevorsie zuschlagen, heißt es. Ihr habt vermutlich keinerlei Bewachung hier an der Schule?«
»Bewachung?« Divya spürte Maitas Anspannung mehr, als dass sie sie sah, und plötzlich war der Tonfall der Schulleiterin sehr klar und präzise, als wollte sie im Unterricht ein Mädchen wegen seiner Dummheit vorführen.
»Was nützt die beste Bewachung, wenn der Einbrecher entkommt? Euch ist natürlich kein Fehler anzulasten. Ihr seid noch sehr jung, wie ich sehe, und vielleicht hätte Euer
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