Messertänzerin
Hauptmann einen erfahreneren Mann schicken sollen. Aber ich versichere Euch, ich werde gern Stillschweigen bewahren. Es muss ja keinen Bericht geben, der beweist, dass es einen Dieb gab, der Euch entkam. Wir könnten uns auf eine … Sinnestäuschung im Mondlicht einigen, nicht wahr?«
Der junge Wächter hob empört das Kinn, während Divya leise keuchte. Selurias Ermordung – nur eine Sinnestäuschung? Sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Im Garten lag die Leiche der selbstlosesten Frau, die Divya kannte. Seluria hatte sich um sie gekümmert, seit sie denken konnte. Wie konnte Maita es wagen …?
Der Wächter musterte Maita mit einem scharfen Blick, als wollte er ihre Maske durchdringen, um ihr wahres Gesicht zu entdecken.
»Ein Mord an einer Dienerin ist keine Kleinigkeit und der Diebstahl eines Stammbaums schon gar nicht. Natürlich muss ich einen ausführlichen Bericht an den Fürsten weiterleiten, und ich denke, dass zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen nötig sein werden.«
»Wachen an dieser Schule?«, fuhr Maita auf. »Das werde ich nicht zulassen! Ich will sofort Euren Hauptmann sprechen!«
Der Wächter ging einen Schritt auf Maita zu und seine braunen Augen funkelten.
»Ich bin der Hauptmann und selbst verantwortlich für den Fehler, der mir unterlaufen ist.«
»Ach«, gab Maita mit veränderter, fast höflicher Stimme von sich. »Habe ich mich so in Eurem Alter getäuscht?«
Über sein Gesicht zog ein dunkler Schatten.
»Vielleicht nicht. Beurteilt Ihr Menschen denn nach der Anzahl ihrer Falten? Ich bin achtzehn. Mit vier Jahren begann meine Ausbildung und mit siebzehn wurde ich Hauptmann in Fürst Warkans Wache. Ich bin ein Sujim.«
Die Schulleiterin zögerte einen Moment.
»Das Missverständnis tut mir leid. Sendet dem Fürsten bitte meinen Dank, dass seine Wache uns so gut beschützt hat. Aber weist ihn auch darauf hin, dass der Einbruch heute Nacht der erste an dieser Schule war. Und sicherlich auch der letzte.«
Der Hauptmann verneigte sich. »Ihr schuldet uns keinen Dank, aber ich werde ihn gern übermitteln. Würdet Ihr so freundlich sein, mir den Ausgang zu zeigen?«
Maita schritt hoheitsvoll voraus und brachte den Mann ins Erdgeschoss, während Divya kraftlos in den Garten starrte. Es schien ihr ungerecht, dass der versuchte Diebstahl eines Stammbaums heute Nacht so viel wichtiger war als der Tod der alten Dienerin. Was machte Sada besser als Seluria? Ob sie je begreifen würde, was diese Frau für sie getan hatte?
Noch am gleichen Abend sah Divya unter Selurias Matratze nach. Was war nur so wichtig gewesen, dass ihre letzten Worte diesem Gegenstand gegolten hatten? Divya fand ihn ohne große Anstrengung. Aber was das sein sollte, konntesie nicht sagen. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, mit viel Kunstfertigkeit ein Tier aus Holz zu schnitzen. Ein seltsames Tier mit vier langen Beinen und einem Höcker auf dem Rücken. Zu welchem Zweck man so etwas Hübsches, aber Nutzloses erschuf, war Divya ein Rätsel. Aber als sie es befühlte, schmiegte es sich in ihre Handfläche, als hätte es immer dorthin gehört. Irgendetwas in den Augen des Tieres rührte sie, als wäre sie diesem Blick schon einmal begegnet, vor langer Zeit. Nachdenklich steckte sie es in die Tasche ihrer Vesséla. Vielleicht würde sie ja eines Tages herausfinden, was es war.
Sujim
Am nächsten Morgen hatte Divya das Gefühl, die Schule hätte das Gleichgewicht verloren, wie eine Tänzerin, die nach einem falschen Schritt nicht in den Takt zurückfindet. Maita hatte bereits in der Dämmerung alle Lehrerinnen in ihr Schreibzimmer gerufen und sie über die Vorkommnisse der letzten Nacht informiert. Beim Frühstück wurde den Schülerinnen – ohne Angabe eines Grundes – gesagt, sie sollten ihre Masken bei sich tragen und sie auf den Gängen anlegen. Die angehenden Tanas gerieten daraufhin vollkommen durcheinander und hielten sich so oft wie möglich in den Gängen auf, um nichts zu verpassen.
Divya erzählte den anderen Dienerinnen nur das Notwendigste. So hatte sie es Maita versprochen, bis klar sein würde, wie es weitergehen sollte. Als endlich der Unterricht begann und sich die Illusion des Alltags über die Schule gelegt hatte, hämmerte jemand so kräftig an die Eingangstür, dass Divya zusammenzuckte. Sie huschte über die Agida näher, sodass sie von dort oben alles beobachten konnte. Der junge Wachmann von gestern Nacht stand vor der Tür und überreichte Maita ein Stück Papier, das sie
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