Messertänzerin
äußersten Ende des Stegs saß eine dunkle Gestalt. Das Mondlicht ließ die Schatten der Schnitzereien in der Holzwand über ihr Gesicht schweben wie einen Totenschleier aus schwarzer Spitze. Jolissa sah darunter geheimnisvoll und schön aus, fand Divya. Da drückte Jolissa ihr Gesicht noch näher ans Holz und sagte leise: »Ich habe schon gedacht, du kommst heute nicht mehr.«
Divya wollte ihr gerade erklären, warum sie es nichtschneller geschafft hatte – als sie ein halblautes Flüstern von der Straße her vernahm. Erschrocken blieb sie auf dem Steg sitzen, drückte sich in den Schatten eines Pfostens und lauschte.
»Heißt das, dass du auf mich gewartet hast?« Es war die Stimme eines Mannes, jung und herausfordernd.
»Natürlich nicht« , flüsterte Jolissa bestimmt zurück. »Ich habe dir doch beim letzten Mal gesagt, dass ich abends immer um diese Zeit hier bin, um den Mond anzusehen.«
»Wie bedauerlich! Und ich dachte, wir wären verabredet gewesen.«
»Niemals!«, erklärte Jolissa empört. »Und du hättest es nie wagen dürfen mich anzusprechen.«
»Aber du sprichst doch auch mit mir. Darf eine angehende Tana das?« Der Mann klang belustigt.
»Ich bin eine Dienerin. Sonst wäre ich wohl kaum auf der Agida.«
Er lachte leise. »Eine wunderschöne Dienerin mit blondem Haar und einer blauen Vesséla.«
Jolissa wich zurück. »Das Mondlicht täuscht deine Augen. Ich trage staubfarbene Kleidung, die in der Nacht blau schimmert.«
Er trat aus dem Schatten eines Busches hervor. Divya spähte neugierig um die Ecke ihres Pfostens. Der Mann war eher noch ein Junge, vielleicht achtzehn Jahre alt, recht groß und ein bisschen schlaksig. Er hatte hellbraunes, leicht verwuscheltes Haar und einen breiten Mund, der vermutlich oft lächelte. Über seiner Kleidung trug er einen blauen Umhang und darüber die große Tasche eines Boten.
»Meine Augen lassen sich nicht so leicht täuschen, unddas Mondlicht versteckt nichts, sondern bringt die wahre Natur der Dinge hervor«, widersprach er. »Verrätst du mir heute deinen Namen?«
Jolissas Finger umklammerten das Holz, aber sie hielt ihr Gesicht jetzt im Schatten verborgen. »Du weißt schon viel zu viel.«
»Dann sage ich dir meinen: Ich heiße Roc. Und ich werde übermorgen wieder hier sein, um die gleiche Zeit.« Er schmunzelte. »Natürlich ist das keine Verabredung. Es wäre ein Zufall, wenn wir uns wiedersehen würden.«
»Ein großer Zufall«, bestätigte Jolissa mit sanfter Stimme. »Weil ich niemals mit einem Mann sprechen würde.«
Sie trat näher ans Holz heran und betrachtete Roc noch einmal, bevor sie ihre Vesséla zusammenraffte, sich elegant erhob und mit erhobenem Kopf die Agida entlangschritt, auf Divya zu.
Divya huschte schnell und lautlos in den Mauerspalt zurück, durch den die Agida sie hergeführt hatte. Hier konnte zumindest dieser Roc sie nicht sehen.
Als Jolissa um die Ecke bog, zuckte sie erschrocken zusammen.
»Das ist also dein Geheimnis«, platzte Divya heraus, und zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war sie wütend auf ihre Freundin. Jolissa bemerkte das nicht, ihr Gesicht schien in der Dunkelheit von innen zu leuchten.
»Geheimnis? Ja! Findest du nicht auch, dass Roc …«, Jolissa sprach den Namen so vorsichtig aus, als könnte er zerbrechen, »… ganz ungewöhnliche Augen hat? Sie lachen, selbst wenn er ernst ist.«
»Was interessieren dich seine Augen?«, stöhnte Divya. »Ich weiß nur, dass sie zu viel gesehen haben!«
Das Strahlen in Jolissas Gesicht erlosch. »Niemand weiß davon und ich werde ihn ja auch nicht mehr treffen. Jedenfalls nicht mit Absicht.«
Divya schüttelte den Kopf. »Du darfst ihn nie wiedersehen! Du spielst mit Worten, aber dennoch ist es eine Verabredung mit einem Mann . Denk an deine Zukunft als Tana! Du weißt, dass Maita den Ruf ihrer Schule mit allen Mitteln schützen muss.«
»Mach dir keine Sorgen!«, wehrte Jolissa schuldbewusst ab. »Niemand kann mich dort hinten beobachten.«
Sie wandte sich in Richtung Mond, und sein Licht fing sich in ihren Augen, die heute Nacht einen besonderen Glanz hatten.
»Alles in Ordnung?«
»Ja natürlich. Es ist ein … Spiel. Und es gibt so wenig Abwechslung für uns.«
Divya seufzte. »Wem sagst du das?«
Die beiden setzten sich nebeneinander auf den Steg und schlangen die Hände ineinander. Jolissas Pulsschlag verriet sie: Es war mehr als ein Spiel für sie! Sie wirkte wie in einem Rausch zwischen Begeisterung und tiefer Traurigkeit, als wollte
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