Messertänzerin
der Dachkante verursachte, zerschnitt die Stille der Nacht und Divya zuckte zusammen. Sie war fast sicher, dass der Mann es gehört haben musste. Hatte er nicht die Augen geöffnet? Spielte er seine Unaufmerksamkeit nur vor?
Erst nachdem er sich eine ganze Weile nicht bewegt hatte, zog Divya das Seil straff, schwang sich daran hinüber und federte den Aufprall mit ausgestreckten Beinen ab. Die Metalldornen kratzten laut auf Stein. Mit angehaltenem Atem verharrte sie in ihrer Haltung und blickte hinunter. Nichts! Konnte das sein? War es nur ihr so laut vorgekommen? Hastig kletterte sie am Seil hinauf aufs Dach, wo sie angespannt noch einmal abwartete. Ihre Instinkte spielten verrückt und in ihren Ohren rauschte die Stille.
Wenn der Mann auch ein Sujim war wie Tajan, wärees gut möglich, dass er längst an der Mauer hochkletterte. Divya wollte keinesfalls auf die Antwort warten, sondern so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Wächter bringen. Schnell verstaute sie Seil und Dornenaufsätze an den dafür vorgesehenen Bändern ihrer Vesséla. Dann begann sie zu rennen. Die nächste Dachkante rauschte auf sie zu und sie schätzte die Entfernung ab. Beim Tanz der Schmetterlinge wären es knappe drei Schritte, bei ihrem jetzigen Tempo nur einer. Ohne anzuhalten, teilte sie ihre Sprünge so ein, dass sie sich direkt an der Kante abstoßen konnte. Und sie flog – viel weiter, als sie dachte – und erreichte das Dach ohne große Anstrengung. Sie wusste, hier sollte sie stehen bleiben und sich orientieren, aber es war wie ein Rausch, der all ihre Sinne beherrschte. Ein Meer von flachen Dächern erstreckte sich vor ihr, sodass sie ihre Beine fliegen lassen konnte, wie sie es sonst nur beim Aufwärmen tat. So weit und kraftvoll, dass Rudja vermutlich rot geworden wäre. Ihre Füße waren wie der Wind, wenn er im Herbst durch die Bäume fuhr, um sie ihrer Blätter zu berauben, und sie fühlte sich so frei wie noch nie in ihrem Leben.
Irgendwann zwang sie schließlich ein größerer Abgrund anzuhalten und zu überlegen. Ihr Blick wanderte über die Stadt in Richtung Fluss. Von der Agida aus hatte Jolissa ihr einmal gezeigt, wo das Viertel der Tassari lag: von dort aus in einer Linie bis zum grünen Haus mit den Türmen, dem Gasthaus Lobean, und ein gutes Stück dahinter. Aber sie war heute Nacht nicht in einer geraden Linie gelaufen, sondern den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ihrer Sprünge gefolgt. Das helle Grün des Gasthauses war im Mondlicht zum Glück gut zu erkennen, etwa fünfzehnHausdächer vor ihr. Aber konnte sie von dort aus noch die richtige Richtung finden? Musste sie sich nicht weiter links halten? Sie wandte sich um, zurück zur Schule, um ihren Weg zurückzuverfolgen.
Sie sah ihn nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Auf einem Palast, zwei Dächer hinter ihr. Der Schatten eines kleinen Turms schien sich nach außen zu wölben, die Kontur einer schmalen Hüfte, die gleich darauf mit dem Schatten wieder verschmolz. Aber Divya wusste sofort, dass es keine Täuschung war: Der Wächter verfolgte sie! Und er war sicher nicht langsamer als sie!
Kurz entschlossen kletterte sie an der Hauswand nach unten. Dort würde sie versuchen, sich zu verstecken und ihm zu entkommen. Und dann stand sie plötzlich allein auf der mondbeschienenen Straße. Die Fremdartigkeit ihrer Umgebung wirkte so real, wie sie es von oben nie gewesen war. Jeder heimliche Schritt in der Schule hatte sie nach oben geführt, auf den Dächern fühlte sie sich sicher, weit entfernt von der Welt, als wäre sie nur ein Bild, das sie betrachtete. Aber hier unten holte die Wirklichkeit sie mit einem Schlag ein. Hier unten stand sie in einem Teil der Stadt, den sie nicht kannte, ohne den Hauch einer Ahnung, wohin sie wollte. Jeder Schritt kribbelte in ihrem Innern, als wären die Mauern mit Augen bedeckt, die sie vorwurfsvoll anstarrten. Vereinzelte Fackeln warfen helle Lichtkegel auf die Häuser ringsumher, raschelnde Bäume markierten in regelmäßigen Abständen den Rand der Fahrspuren für Fuhrwerke, und ihre Blätter wehten im sanften Wind über den festgetretenen Sand. Ganz ruhig, befahl sie ihrer aufgewühlten inneren Stimme. Zuerst musste sie ihren Verfolger abschütteln.Divya verschwand in einer schmalen Seitengasse und rannte, so schnell sie konnte, um in das Gewirr von Straßen einzutauchen, die von Hausecke zu Hausecke immer ärmlicher wirkten. Immer tiefer wurden die Schlammlöcher in den Straßen, Gerüche nach Essen und
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