Messewalzer
Begriffe. Was hatten sie zu bedeuten? Hatten sie überhaupt etwas zu bedeuten? Eimnot! Die Geschichte kannte er nur aus der Presse. Ein tragischer Fall von Justizirrtum. Ohne Frage ein guter Stoff für einen Roman. So etwas kam doch bestimmt an. Ein Mord, unaufgeklärt, ein Unschuldiger hinter Gittern, die Fehler der Justiz: alles sicherlich wunderbare Zutaten für einen Bestseller. Aber wurde Lachmann deswegen getötet? Und L.E.? Leipzig. Natürlich hatte Eimnot in Leipzig eingesessen, natürlich wurde das Verbrechen in Leipzig verübt, aber musste Lachmann sich das unbedingt notieren?
Kroll sah immer noch auf den Bildschirm. AGMS. Das musste eine Abkürzung sein. Aber für was? Er ging ins Internet und googelte sich durch. 215.000 Begriffe. Aber die Ergebnisse waren wenig erhellend: Anglo-German Medical Society, Avant-Garde Marketing Solutions oder Annual General Meetings. Das machte alles keinen Sinn. Das Internet würde ihn wohl nicht weiterbringen. Zumindest nicht auf die Schnelle.
Seine Gedanken waren gerade zu Goran übergewechselt, als ihn der Klingelton seines Handys aus den Überlegungen riss. Er schaute aufs Display. Claudia blinkte auf. Kroll zögerte einen Moment, bevor er auf die grüne Taste drückte. »Hallo, Claudia!«
Sie meldete sich verzögert. »Hallo, Kroll … ich wollte mich nur mal melden.«
»Ja …« Claudia machte eine lange Pause, bevor sie weiterredete. »Du warst gestern in Kiel …«
»Du hast mich also gesehen?«
Wieder eine lange Pause. »Es ist nicht, wie du denkst, Kroll …«
»Du weißt also, was ich denke?«
Ihre Stimme wurde noch leiser. »Ich kann’s mir vorstellen …«
Erneut entstand eine lange Pause, die Kroll unterbrach. »Hat sich echt gelohnt, die Fahrt nach Kiel.«
»Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst?«
Kroll lag eine zynische Bemerkung auf den Lippen. Er schluckte sie hinunter. Es war schon genug Porzellan zu Bruch gegangen. Es machte keinen Sinn, den Scherbenhaufen noch weiter aufzutürmen.
»Ich brauch Zeit, Kroll …«
Kroll verdrehte die Augen. Das hatte er in dieser oder ähnlicher Form bereits zigmal gehört. Er wusste genau, dass diese Aussage der Anfang vom Ende war. »O.K. … du kannst dich wieder melden … wenn du meinst, dass du genug Zeit hattest, um zu wissen, ob dein Neuer der Richtige ist.«
Claudia ging auf die Bemerkung nicht ein. »Mach ich … Kroll?«
»Ja?«
»Ach nichts! Mach’s gut!«
»Mach’s gut!« Kroll sah wieder auf den Bildschirm. Er konnte sich aber nicht mehr konzentrieren. Für einen Moment überlegte er, ob er sich die Akte Eimnot noch bringen lassen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell. Er fuhr den Computer herunter und ging nach Hause.
DREI
Kroll war schon um sieben Uhr im Büro, für ihn eine ungewöhnliche Zeit. Er hatte kaum geschlafen und lag seit fünf Uhr wach im Bett. Zwar hatte er in letzter Zeit nur wenig Schlaf gefunden, die aktuellen Ereignisse verdrängten jedoch sein Schlafbedürfnis. Es schwirrten einfach zu viele Gedanken in seinem Kopf herum: der neue Fall, der Druck, der nicht zuletzt durch die Medien auf ihnen lasten würde, die peinliche Äußerung in der Pressekonferenz und nicht zuletzt die Sache mit Claudia. Es hatte keinen Sinn, länger in den Federn zu bleiben. Also machte er sich auf den Weg ins Büro. Er ging die Tschaikowskistraße hinunter und kaufte sich beim Bäcker an der Ecke zwei belegte Brötchen. Er hatte keine Lust, sich alleine an den Frühstückstisch zu setzen. In Gedanken bereits bei der Arbeit, folgte er der Lessingstraße bis zum Dittrichring. Die Stadt schlief noch. Die Geschäfte öffneten erst in gut zwei Stunden, ihr Betrieb würde die morgendliche Ruhe in hektisches Treiben verwandeln. Ein Straßenkehrer in orangefarbener Uniform reinigte auf seiner Kehrmaschine die Fußgängerzone. Kroll ging den Ring entlang, an der Thomaskirche vorbei und bog hinter dem Neuen Rathaus Richtung Präsidium ab. Er genoss die frische Luft des Morgens.
Aus dem Archiv hatte er sich sämtliche Unterlagen bringen lassen, die mit Peter Eimnot zu tun hatten. Er biss in eins der Brötchen und schlürfte seinen Kaffee, während er in den Akten las.
Im Jahre 1982 nahm die tragische Entwicklung im Fall Peter Eimnot ihren Anfang. Der Student wurde 1957 in Leipzig geboren und war der einzige Sohn nigerianischer Einwanderer. Sein Vater, ein überzeugter Kommunist, war Ingenieur für Elektrotechnik und hatte gemeinsam mit seiner Frau beim VEB Kombinat Robotron in Leipzig
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