Meteor
ohrenbetäubenden Knirschen und Krachen der Eismassen jagte der riesige Block am Abbruch des Milne-Eisschelfs herunter. Gewaltige Gischtwolken schossen in die Höhe. Mit dem Eintauchen verlangsamte sich die Fahrt in die Tiefe. Die schwerelos stürzenden Körper von Rachel, Tolland und Corky wurden brutal abgebremst.
Als der fallende Eisblock, von der eigenen Wucht getrieben, immer tiefer ins Wasser tauchte, sah Rachel, wie ihr die schäumende Wasseroberfläche in scheinbarer Verzögerung entgegenschwappte, ähnlich einem Bungeespringer, dessen Leine ein wenig zu lang ist. Das Wasser stieg… stieg… stieg. Der Albtraum ihrer Kindheit kehrte wieder. Das Eis… das Wasser… die Dunkelheit. Die Urangst erfasste sie.
Der Eisblock versank. Das Wasser des Eismeers schlug über ihm zusammen. Inmitten der strömenden Wasserwirbel wurde Rachel in die Tiefe gesaugt. Das Salzwasser brannte auf ihrer bloßen Gesichtshaut wie Feuer. Der eisige Grund sank unter ihren Füßen weg. Rachel kämpfte darum, an der Oberfläche zu bleiben. Das Gel in ihrem Anzug gab ihr Auftrieb. Sie schluckte Salzwasser. Spuckend durchstieß sie die Wasseroberfläche. Sie konnte die beiden anderen in der Nähe sehen; in den Sicherungsleinen verheddert, strampelten sie, um an der Oberfläche zu bleiben. Auch Rachel begann Wasser zu treten.
»Er kommt wieder hoch!«, brüllte Tolland in diesem Moment.
Rachel spürte das Meer unter sich aufwallen. Die unter Wasser zum Stillstand gekommene Eistafel stieg wie eine anfahrende Lokomotive nach einem Richtungswechsel wieder nach oben.
Ein lautes Grollen durchlief das Wasser, während der Rand der riesigen Tafel langsam am Gletscherabbruch emporschrammte.
Schnell und schneller stieg der Eisblock in den dunklen Fluten auf. Rachel fühlte sich emporgehoben. Inmitten wirbelnder Wasserfluten bekamen ihre Füße wieder Kontakt mit dem Eis. Der riesige Brocken durchbrach die Wasseroberfläche. Schwankend und pendelnd suchte er eine stabile Lage. Das ablaufende Wasser spülte Rachel über die gewaltige Eisfläche zum Rand. Flach auf dem Bauch rutschend, raste sie auf die Kante zu.
Halt dich fest!, hörte sie die Stimme ihrer Mutter rufen, wie damals in ihrer Kindheit, als sie unter das Eis zu geraten drohte.
Festhalten! Nicht untergehen!
Ein furchtbarer Ruck riss Rachel nur wenige Meter vor dem Rand der Eistafel herum. Die Rutschpartie endete. Zehn Meter entfernt war Corkys schlaffer Körper ebenfalls ruckartig zum Stillstand gekommen. Noch aneinander geleint, hatte das abfließende Wasser sie in entgegengesetzte Richtungen gespült. Auf allen vieren erschien hinter Corky eine weitere dunkle Gestalt, hielt sich an Corkys Sicherheitsleine fest und spuckte Salzwasser.
Michael Tolland.
Der letzte Schwall war abgeflossen, und tödliche Ruhe breitete sich aus. Eine schreckliche Kälte breitete sich in Rachels Körper aus. Ihre Glieder schmerzten. Auf Händen und Knien kroch sie auf dem immer noch schwankenden, neugeborenen Eisberg zu den beiden anderen hinüber.
Hoch oben auf dem Gletscher spähte Delta-1 durch die Nachtsichtgläser in die schwarzen Wasserstrudel rings um den jüngsten arktischen Tafeleisberg. Es überraschte ihn nicht, dass er keine Leichen im Wasser treiben sah. Es war dunkel, und die Opfer trugen schwarze Schutzanzüge mit Kopfhauben.
Delta-1 suchte erfolglos den gewaltigen Eisblock ab, der in der starken ablandigen Strömung rasch aufs offene Meer hinaustrieb.
Die Scharfeinstellung der Gläser ließ sich nur ungenau nachführen. Als Delta-1 schon den Blick abwenden wollte, sah er etwas Unerwartetes.
Drei schwarze Punkte auf dem Eis.
Sind das Leichen?
»Hast du was gesehen?«, wollte Delta-2 wissen.
Delta-1 erwiderte nichts. Er stellte die stärkste Vergrößerung ein. Im Blassblau des Eisbergs sah er drei menschliche Gestalten bewegungslos beieinander liegen; ob tot oder lebendig, war nicht zu erkennen. Es war auch nicht wichtig. Falls sie noch lebten, würden sie trotz der Schutzanzüge in längstens einer Stunde tot sein. Sie waren nass, ein Sturm zog auf, und sie trieben auf eines der tödlichsten Meere der Welt hinaus. Man würde die Leichen niemals finden.
»Nur ein paar Schatten«, sagte Delta-1. »Lass uns zur Basis zurückfahren.«
57
Senator Sedgewick Sexton stellte den Cognacschwenker auf dem Kaminsims seines eleganten Apartments ab und stocherte im Feuer, um seine Gedanken zu sammeln. Hinter ihm im Wohnraum saßen sechs Männer. Der Smalltalk war zu Ende. Die Männer
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