Metro 2034
Verhandlungen traten, anstatt sie niederzumähen, bevor sie ihnen zu nahe kamen?
Und schließlich: Was bedeutete das unheilvolle Wort »Strafe«, das die geheimnisvollen Wächter erwähnt hatten? Nichts ist wertvoller als das menschliche Leben, hatte Saschas Vater immer gesagt. Für ihn waren das keine leeren Worte gewesen, keine Binsenweisheit. Es hatte eine Zeit gegeben, als er noch ganz anders dachte - nicht umsonst war er der jüngste Militärkommandeur der gesamten Linie gewesen.
Mit zwanzig denkt man über Mord und Tod noch nicht viel nach. Das ganze Leben erscheint einem wie ein Spiel, das man im schlimmsten Fall wieder von vorne beginnen kann. Es war ja kein Zufall, dass die Armeen der Welt sich aus jungen Männern rekrutierten, die eben noch Schüler gewesen waren. Und über diese Jungs, die doch nur Krieg spielten, verfügte ein Einzelner, für den Tausende kämpfender und sterbender Menschen nur blaue und rote Pfeile auf irgendwelchen Karten waren. Einer, der nicht an abgerissene Beine, hervorquellende Därme und aufgeplatzte Schädel dachte, wenn er beschloss, eine Kompanie oder ein Regiment zu opfern.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ihr Vater seine Feinde genauso verachtet wie sich selbst. Damals hatte er Aufgaben, bei denen er seinen eigenen Kopf riskierte, mit befremdlicher Leichtigkeit angenommen. Dabei war er keineswegs unbesonnen, sondern stets streng berechnend vorgegangen. Klug, strebsam, dabei dem Leben gegenüber gleichgültig, vermochte er dessen Realität nicht zu spüren, verschwendete keinen Gedanken an die Folgen, empfand keinerlei Gewissensnöte. Nein, auf Frauen und Kinder hatte er nie geschossen, aber Deserteure hatte er eigenhändig exekutiert, und er war stets als Erster gegen die Feuerstellungen der Gegner vorausmarschiert. Schmerz konnte ihm kaum etwas anhaben. Meist war ihm sowieso alles egal.
Bis er Saschas Mutter traf.
Sie schlug ihn, der Siege gewohnt war, mit ihrer Gleichgültigkeit in Bann. Seine einzige Schwäche, der Ehrgeiz, der ihn zuvor gegen die Maschinengewehre getrieben hatte, führte ihn nun in einen neuen, verzweifelten Sturmangriff, der sich unversehens zu einer langfristigen Belagerung auswuchs.
Lange genug hatte er sich in Liebesangelegenheiten nicht besonders anstrengen müssen: Die Frauen hatten ihm stets von selbst ihr Banner zu Füßen gelegt. Von ihrer Nachgiebigkeit korrumpiert, konnte er mit jeder neuen Freundin stets seine Begierde befriedigen, noch ehe er sich in sie verliebte, so dass er meist schon nach der ersten Nacht jegliches Interesse an der Verführten verlor. Sein stürmisches Wesen sowie sein Ruhm vernebelten den Mädchen die Augen, und kaum eine machte je auch nur den Versuch, die gute alte Strategie des Abwartens anzuwenden - den Mann warten zu lassen, um ihn erst einmal besser kennenzulernen.
Saschas Mutter jedoch hatte erst einmal nichts für ihn übrig. Sie ließ sich von seinen Auszeichnungen, seinem Rang, seinen Triumphen auf dem Schlachtfeld und in der Liebe nicht beeindrucken. Auf seine Blicke reagierte sie nicht, seine Witze riefen bei ihr nur ein Kopfschütteln hervor. Diese junge Frau zu erobern wurde für ihn zur echten Herausforderung. Einer Herausforderung, die ernster war als die Unterwerfung benachbarter Stationen.
Eigentlich hätte sie nur eine weitere Kerbe auf seinem Gewehrkolben sein sollen. Doch schon bald begriff er: Je weiter die Vereinigung mit ihr in die Ferne rückte, desto wichtiger wurde sie ihm. Sie verhielt sich so, dass er jede Gelegenheit, mit ihr auch nur eine Stunde am Tag zu verbringen, als Triumph empfand. Dabei ließ sie sich scheinbar nur darauf ein, um ihn ein wenig zu quälen. Sie bezweifelte seine Verdienste, verhöhnte seine Prinzipien. Beschimpfte ihn wegen seiner Hartherzigkeit, erschütterte seine Gewissheit, bis er an seinen Kräften und Zielen zweifelte.
Er erduldete das alles. Nein, es gefiel ihm sogar. Mit ihr begann er nachzudenken. Zu schwanken. Und schließlich zu fühlen: Hilflosigkeit, denn er wusste nicht, wie er sich dieser Frau nähern sollte; Bedauern angesichts all jener Minuten, die er nicht mit ihr verbrachte; ja sogar Angst, sie zu verlieren, ohne sie je gewonnen zu haben. Liebe. Und da belohnte sie ihn mit einem Zeichen: einem silbernen Ring.
Erst als er nicht mehr wusste, wie er ohne sie auskommen würde, gab sie nach. Ein Jahr später kam Sascha zur Welt. Diese zwei Leben konnte er nicht im Stich lassen, also durfte auch er selbst nicht mehr einfach so sterben.
Wenn
Weitere Kostenlose Bücher