Metro 2034
hatte mit ihrem Schlaf, ihrer Schwäche, ihrem Egoismus.
Sascha hielt die kühle, aber noch weiche Hand des Vaters, wie um ihn zu wärmen, und sprach zu ihm wie zu sich selbst: »Du wirst ein Auto finden. Wir werden nach oben gehen, uns hineinsetzen und wegfahren. Du wirst lachen wie an jenem Tag, als du den Recorder mit den Musik-CDs mitbrachtest.«
Ihr Vater hatte zuerst aufrecht gesessen, an eine Säule gelehnt, das Kinn auf die Brust gesenkt, so dass man ihn für einen Schlafenden hätte halten können. Doch dann war sein Oberkörper allmählich nach unten gerutscht, in die Lache aus geronnenem Blut, als wäre er es müde geworden, den Lebenden zu spielen, als wollte er Sascha nun nichts mehr vormachen.
Die Falten, die das Gesicht des Vaters immer durchzogen hatten, waren kaum noch zu sehen.
Sie ließ seine Hand los, half ihm sich bequemer hinzulegen und hüllte ihn von Kopf bis Fuß in eine zerrissene Decke. Es gab keine andere Möglichkeit, ihn zu bestatten. Natürlich hätte sie ihn an der Oberfläche zurücklassen können, damit er in den Himmel blickte, wenn dieser eines Tages doch wieder aufklarte. Doch lange bevor es so weit wäre, würde sein Leichnam dort oben den umherstreifenden Kreaturen zum Opfer fallen. An ihrer Station dagegen würde ihn niemand anrühren. Aus den verlorenen südlichen Tunneln war keine Gefahr zu befürchten - das Einzige, was dort noch lebte, waren fliegende Kakerlaken. Im Norden brach der Tunnel ab und ging in eine verrostete, halb eingefallene Metrobrücke über.
Jenseits der Brücke wohnten Menschen, doch würde es niemandem dort einfallen, die Brücke aus reiner Neugier zu überqueren. Es war allgemein bekannt, dass auf der anderen Seite nichts als verbrannte Ödnis lag. Und am Rande dieser Ödnis befand sich die Wachstation, an der zwei todgeweihte Verbannte hausten.
Ihr Vater hätte ihr nie gestattet, allein hierzubleiben, und nun war das ja auch völlig sinnlos. Außerdem wusste Sascha: Ganz gleich, wie weit sie lief, ganz gleich, wie verzweifelt sie aus diesem verwunschenen Verlies zu fliehen versuchte, jetzt würde sie sich nie mehr wirklich davon befreien können - jetzt nicht mehr.
»Papa . Verzeih mir, bitte«, schluchzte sie. Es gab nichts mehr, wodurch sie seine Vergebung hätte verdienen können.
Sie zog den Silberring von seinem Finger und ließ ihn in eine Tasche ihrer Latzhose fallen. Dann nahm sie den Käfig mit der Ratte diese war noch immer ruhig - und ging langsam Richtung Norden, so dass auf dem staubigen Granit nur ein paar blutige Spuren zurückblieben.
Sie war bereits auf die Gleise herabgestiegen und hatte soeben den Tunnel betreten, als in der leeren Station, nun einem Totenschiff gleich, etwas Erstaunliches geschah. Aus der Mündung des gegenüberliegenden Tunnels brach urplötzlich eine lange Flammenzunge hervor und streckte sich nach dem Leichnam ihres Vaters aus. Doch erreichte sie ihnnicht und zog sich widerwillig in die dunkle Tiefe zurück als ob sie sein Recht auf eine letzte Ruhe respektierte. »Sie kommen zurück!Sie kommen zurück!«, tönte es aus dem Telefonhörer. Istomin hielt den Hörer von seinem Ohr weg und blickte ihn ungläubig an.
»Wer ‚sie‘?« Denis Michailowitsch sprang von seinem Stuhl auf und verschüttete dabei seinen Tee. Ein dunkler Fleck breitete sich über seine Hose aus. Er verfluchte den Tee und wiederholte die Frage.
»Wer ‚sie‘?«, gab Istomin mechanisch weiter. »Der Brigadier und Homer«, knisterte es aus dem Hörer. »Achmed ist tot.«
Wladimir Iwanowitsch tupfte sich mit einem Taschentuch die Koteletten ab und wischte sich unter dem schwarzen Gummi seiner Piratenklappe die Schläfen. Wenn einer der Kämpfer starb, war es seine Aufgabe, dessen Angehörige zu informieren. Ohne sich neu verbinden zu lassen, steckte er den Kopf aus der Tür und rief dem Adjutanten zu: »Sofort beide zu mir!Und dass mir der Tisch gedeckt wird!« Er ging durch sein Büro, rückte aus irgendeinem Grund die Fotos an der Wand zurecht, blieb vor dem Metroplan stehen, flüsterte etwas zu sich selbst und drehte sich zu Denis Michailowitsch um. Dieser hatte die Arme vor der Brust verschränkt und grinste breit. »Wolodja, du benimmst dich wie ein Mädchen vor einem Rendezvous«, sagte der Oberst schmunzelnd. »Ach, und du bist gar nicht nervös, was?«, schnappte der Stationsvorsteher zurück und deutete mit der Stirn auf die feuchte Offiziershose. »Ich, wieso? Ich bin bereit. Die beiden Stoßtrupps stehen.
Noch ein Tag,
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