Metro 2034
dass man ihnen kaum folgen konnte. »Die Nagornaja ohne Verluste passiert«, verriet der Notizblock und sprang sogleich weiter: »An der Tulskaja herrscht Chaos. Kein Durchkommen zur Metro, die Hanse lässt niemanden durch. Zurück können wir auch nicht.«
Homer blätterte weiter. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass der Brigadier von dem Kurgan herabstieg und auf ihn zukam. Das Tagebuch durfte ihm auf keinen Fall in die Hände fallen. Bevor Homer den Block in seinem Rucksack verschwinden ließ, las er noch: »Haben die Situation unter Kontrolle. Die Station ist abgeriegelt, ein Kommandant eingesetzt.« Und gleich darauf: »Wer krepiert als Nächster?«
Und dann stand über dieser offenen Frage noch ein eingerahmtes Datum. Auch wenn einen die vergilbten Seiten des Notizblocks glauben machten, dass die beschriebenen Ereignisse schon ein Jahrzehnt zurücklagen, war dieser Eintrag offenbar erst vor ein paar Tagen gemacht worden.
Das verkalkte Hirn des Alten setzte mit fast schon vergessener Schnelligkeit die einzelnen Teile des Mosaiks zusammen: den geheimnisvollen Wanderer, den der unselige Obdachlose an der Nagatinskaja gesehen haben wollte; die scheinbar bekannte Stimme der Torwache; den Satz: »Zurück können wir auch nicht.« Vor seinem inneren Auge begann sich ein Gesamtbild zusammenzufügen. Vielleicht waren es ja die Kritzeleien auf diesen verklebten Seiten, die all den seltsamen Ereignissen Sinn verliehen?
Zumindest war er sich jetzt absolut sicher, dass es gar keinen Überfall auf die Tulskaja gegeben hatte. Was sich dort zutrug, war weitaus komplexer und geheimnisvoller. Und Hunter, der die Wachleute am Stationstor eine Viertelstunde lang ausgefragt hatte, wusste das ebenso gut wie Homer.
Deshalb durfte er dem Brigadier den Notizblock nicht zeigen. Und deshalb hatte er es gewagt, ihm in Istomins Büro offen zu widersprechen. »Wir dürfen nicht stürmen«, wiederholte er.
»Wir können das Tor nicht aufsprengen«, fuhr Homer fort, »denn da ist überall Grundwasser, und wir würden sofort die ganze Linie überschwemmen. Die Tulskaja hält sich gerade noch so, sie hoffen jeden Tag, dass das Wasser nicht einbricht. Der Paralleltunnel, das wisst ihr selbst, ist schon seit zehn Jahren.«
»Sollen wir vielleicht anklopfen und warten, bis sie uns aufmachen?«,LEERZEICHEN unterbrach ihn Denis Michailowitsch. »Wir können immer noch außenrum«, bemerkte Istomin.
Vor lauter Überraschung bekam der Oberst einen Hustenanfall. Dann begann er wütend mit dem Vorsteher zu diskutieren, beschuldigte ihn, seine besten Männer zu Krüppeln machen, ja ins Grab bringen zu wollen. Doch da feuerte der Brigadier dazwischen.
»Die Tulskaja muss gesäubert werden. Die Situation erfordert die totale Vernichtung aller, die sich dort befinden. Von euren Leuten ist niemand mehr dort. Sie sind alle tot.
Wenn ihr weitere Verluste vermeiden wollt, ist das die einzige Möglichkeit. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe alle nötigen Informationen.«
Die letzten Worte waren eindeutig an Homer gerichtet. Der Alte kam sich vor wie ein freches Hündchen, das man im Nacken gepackt und geschüttelt hatte, um es zur Räson zu bringen.
Istomin rückte seine Uniformjacke zurecht. »Wenn der Tunnel von unserer Seite her blockiert ist, gibt es nur eine Möglichkeit, zur
Tulskaja zu gelangen. Von der anderen Seite, über die Hanse. Das heißt aber auch, dass wir dort keine bewaffneten Männer hinbringen. Völlig ausgeschlossen.« Hunter winkte ab. »Ich finde schon welche.« Der Oberst zuckte zusammen.
»Aber wenn man außenrum zur Hanse gelangen will, muss man zwei Stationen über die Kachowskaja-Linie bis zur Kaschirskaja gehen«, sagte der Stationsvorsteher und ließ ein vielsagendes Schweigen folgen. Der Brigadier verschränkte die Arme. »Und?«
»Im Bereich der Kaschirskaja ist erhöhte Strahlung im Tunnel«, erklärte der Oberst. »Das Fragment eines Sprengkopfs ist nicht weit von dort heruntergefallen. Es gab keine Detonation, aber die Strahlung ist gefährlich hoch. Jeder zweite, der dort eine Dosis abbekommt, stirbt innerhalb eines Monats. Noch immer.«
Eine Stille trat ein. Homer nutzte die Pause, um unbemerkt den - natürlich rein taktischen - Rückzug aus Istomins Büro anzutreten. Schließlich ergriff Wladimir Iwanowitsch das Wort. Offenbar befürchtete er, der unkontrollierbare Brigadier werde doch versuchen, die hermetische Sperre an der Tulskaja aufzubrechen, also lenkte er ein: »Wir haben Schutzanzüge.
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