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Metro 2034

Metro 2034

Titel: Metro 2034 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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damals gefesselt neben ihr gesessen, eine Strickmütze über den Augen und einen Knebel im Mund.
    Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen und hatte die ganze Zeit über geweint, und einer der Soldaten des Erschießungskommandos hatte für sie mit seinen Fingern verschiedene Tiere geformt - deren Schatten hatten auf der kleinen gelben Bühne getanzt, die an der Tunneldecke mit der Draisine um die Wette lief.
    Auf der anderen Seite angekommen, hatte man ihrem Vater das Urteil verkündet: Das Revolutionstribunal hatte ihn begnadigt, die Todesstrafe war durch lebenslange Verbannung ersetzt worden. Sie hatten ihn auf die Gleise gestoßen, ihm ein Messer, ein Sturmgewehr mit einem Ersatzmagazin und eine alte Gasmaske hinterhergeworfen und Sascha daneben abgesetzt. Der Soldat, der ihr ein Pferd und einen Hund gezeigt hatte, hatte ihr noch zugewunken. Ob er wohl einer von denen war, die Hunter erschossen hatte?
    Als sie sich die schwarze Gasmaske eines der Toten überzog, verstärkte sich ihr Gefühl, dass sie die Luft eines Fremden einatmete. Jeden noch so kleinen Abschnitt ihres Weges bezahlte jemand mit dem Leben. Vermutlich hätte der Kahle diese Leute ohnehin erschossen, doch nun war Sascha allein durch ihre Anwesenheit zur Komplizin geworden.
    Dass ihr Vater nicht mehr nach Hause hatte zurückkehren wollen, hatte nicht nur daran gelegen, dass er des Kämpfens müde geworden war. Er hatte einmal gesagt, all seine Erniedrigungen und Entbehrungen wögen nicht mehr als auch nur ein fremdes Leben, und so hatte er lieber selbst gelitten, um anderen nicht wieder Leid zuzufügen. Sascha hatte immer gewusst, dass die Waagschale mit jenen Leben, die ihr Vater auf dem Gewissen hatte, schwer gefüllt war und dass er einfach versuchte, das Gleichgewicht wiederherzustellen.
    Der Kahle hätte sich früher einmischen können, hätte die Leute auf der Draisine allein schon durch sein Erscheinen einschüchtern, sie ohne einen einzigen Schuss entwaffnen können, davon war Sascha überzeugt. Keiner der Getöteten wäre ein ebenbürtiger Gegner gewesen.
    Warum tat er das alles? Die Station ihrer Kindheit lag näher, als sie gedacht hatte.
    Es vergingen nicht einmal zehn Minuten, bis vor ihnen Lichter aufflackerten. Die Zufahrt zur Awtosawodskaja war unbewacht, offenbar verließen sich die Bewohner auf die hermetischen Tore. Etwa fünfzig Meter vom Bahnsteig entfernt drosselte der Kahle den Motor, befahl dem Alten, das Steuer zu übernehmen, und stellte sich selbst in die Nähe des Maschinengewehrs.
    Die Draisine rollte fast lautlos und sehr langsam in die Station ein. Oder war es die Zeit selbst, die sich eigens für Sascha dehnte, damit sie in wenigen Augenblicken alles überblickte und sich erinnerte?
    An jenem Tag hatte ihr Vater seinem Adjutanten befohlen, sie zu verstecken, bis alles vorüber sei. Der Mann hatte sie in einen der Diensträume tief im Bauch der Station geführt, aber selbst von dort war zu hören gewesen, wie Hunderte von Kehlen gleichzeitig losbrüllten, und ihr Begleiter war sofort zurückgestürzt, um seinem Kommandeur beizustehen. Sascha war ihm durch die leeren Gänge hinterhergehetzt, hinaus in den Hauptsaal der Station.
    Während sie nun den Bahnsteig entlangglitten, erblickte Sascha die geräumigen Familienzelte und die zu Büros umfunktionierten Waggons, Kinder, die Fangen spielten, Greise, die die Köpfe zusammensteckten, mürrische Frauen, die Waffen reinigten . Und sie sah ihren Vater sowie hinter ihm eine kleine Schar teils grimmiger, teils verängstigter Männer, wie sie versuchten eine unermessliche, brodelnde Menschenmenge in Schach zu halten. Sie lief zu ihm hin, drückte sich gegen seinen Rücken. Verblüfft wandte er sich um, schüttelte sie ab und schlug dem hinzugekommenen Adjutanten wütend ins Gesicht. Doch etwas war in ihm vorgegangen. Die Formation, die bereits mit angelegten Gewehren auf den Feuerbefehl wartete, erhielt Entwarnung. Der einzige Schuss ging in die Luft - ihr Vater erklärte sich bereit, über die friedliche Übergabe der Station an die Revolutionäre zu verhandeln.
    Ihr Vater hatte immer fest daran geglaubt, dass der Mensch Zeichen erhielt. Man musste sie nur erkennen und richtig deuten. Doch die Zeit hatte sich nicht nur verlangsamt, damit Sascha noch einmal den letzten Tag ihrer Kindheit erleben konnte. Vor allen anderen hatte sie nämlich die bewaffneten Männer bemerkt, die sich erhoben, um die Draisine aufzuhalten. Sie sah, wie der Kahle plötzlich mit einer fließenden

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