Metro 2034
erwiderte Homer. »Seid ihr Freunde?«
»Wie ein Hai und sein Lotsenfisch.« Er lächelte traurig und dachte, wie sehr dieses Bild doch stimmte: Natürlich war es Hunter, der all diese Menschen vernichtete, doch einige blutige Fetzen gingen auch auf sein Konto. Sie stützte sich auf. »Was meinst du damit?« »Wohin er geht, gehe auch ich hin. Ich glaube, ich komme ohne ihn nicht aus, und er . Nun, vielleicht denkt er ja, dass ich ihn irgendwie reinige. Aber eigentlich weiß niemand so recht, was er denkt.« Das Mädchen setzte sich näher zu dem Alten hin. »Und was willst du von ihm?« »Ich habe das Gefühl, solange ich bei ihm bin . bleibt mir die Inspiration erhalten.«
»Was heißt Inspiration?« »Eingebung. Eigentlich bedeutet es Einatmen.« »Warum willst du so etwas einatmen? Was bringt dir das?« Homer zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht, was wir einatmen. Es ist, was man uns einhaucht.«
Das Mädchen zeichnete mit dem Finger etwas auf den schmutzigen Boden der Draisine. »Solange du den Tod atmest, wird niemand deine Lippen berühren wollen. Jeder wird vor dem Leichengeruch zurückschrecken.«
»Wenn man den Tod sieht, denkt man über so manches nach«, sagte Homer knapp. »Deswegen hast du noch lange kein Recht, immer wenn du nachdenken musst, den Tod hervorzurufen«, wandte sie ein.
»Das tue ich nicht«, rechtfertigte sich der Alte. »Ich stehe nur daneben. Aber mir geht es nicht um den Tod - nicht nur darum. Ich wollte, dass sich in meinem Leben etwas ereignet, dass eine neue Spirale beginnt, dass sich alles ändert.
Dass ich wachgerüttelt werde, den Kopf klar bekomme.« »Hast du ein schlechtes Leben gehabt?«, erkundigte sich das Mädchen teilnahmsvoll.
»Ein langweiliges. Wenn ein Tag wie der andere ist, fliegen sie so schnell vorüber, dass der letzte sich in rasendem Tempo zu nähern scheint«, versuchte Homer zu erklären. »Du fürchtest, die Dinge nicht mehr erledigen zu können. Und jeder dieser Tage ist mit Tausenden kleinen Dingen angefüllt. Hast du das eine erledigt, holst du kurz Atem und machst dich an das nächste. Am Ende hast du weder die Kraft noch die Zeit, etwas wirklich Wichtiges zu tun. Du denkst dir: Na gut, dann fange ich eben morgen damit an.
Aber dieses Morgen kommt nie, es ist immer nur ein endloses Heute.« »Hast du schon viele Stationen gesehen?« Offenbar hatte sie ihm gar nicht richtig zugehört. »Ich weiß nicht«, erwiderte Homer überrascht. »Wahrscheinlich alle.«
»Ich nur zwei.« Das Mädchen seufzte. »Anfangs haben mein Vater und ich an der Awtosawodskaja gelebt, dann haben sie uns verjagt - zur Kolomenskaja. Ich habe mir immer gewünscht, zumindest noch eine andere zu sehen. Aber die hier ist so seltsam.« Sie glitt mit dem Blick die Bogenreihe entlang. »Wie Tausend Eingänge, und keine Wände dazwischen. Jetzt stehen sie mir alle offen, aber ich möchte gar nicht mehr dorthin. Ich habe Angst.«
»Der zweite. war das dein Vater?« Homer zögerte. »Ist er umgebracht worden?« Das Mädchen zog sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück und schwieg lange, bevor sie antwortete. »Ja.«
Homer holte tief Luft. »Bleib bei uns. Ich werde mit Hunter sprechen, er wird nichts dagegen haben. Ich sage ihm, dass ich dich brauche, um.« Er breitete die Arme aus - er wusste nicht, wie er dem Mädchen erklären sollte, dass sie ab jetzt seine Muse sein würde.
»Sag ihm, dass er mich braucht.« Sie sprang auf den Bahnsteig und entfernte sich von der Draisine. Dabei betrachtete sie jede einzelne Säule, an der sie vorbeikam.
Sie war kein bisschen kokett und sie spielte nicht. So wenig wie sie sich für Feuerwaffen interessierte, so gleichgültig, ja fremd schien ihr auch das übliche weibliche Arsenal ergreifender Blicke und liebreizender Gebärden zu sein. Sie wusste nichts davon, dass ein einziger Augenaufschlag einen Orkan auslösen konnte und dass manche Menschen in der Lage waren, um eines angedeuteten Lächelns willen sich selbst zu opfern oder jemand anders zu töten. Oder war sie einfach nur noch nicht fähig, das alles richtig einzusetzen?
Wie auch immer, sie benötigte dieses Arsenal nicht. Mit ihrem stechenden, direkten Blick hatte sie Hunter gezwungen, seine Entscheidung zu revidieren, mit einer Bewegung hatte sie ihr Netz über ihn geworfen und ihn von einem Mord abgehalten. Hatte sie etwa seinen Panzer durchbrochen? War sie auf seinen weichen Kern gestoßen? Oder brauchte er sie tatsächlich für etwas? Wohl eher Letzteres: Allein schon die
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