Metro 2034
sie anzufassen. Sie hätte ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse auch als Gastfreundschaft auffassen können oder als den Wunsch, ihr etwas zu verkaufen, doch ein gewisser Tonfall in ihren Worten war ihr unangenehm, ja ekelte sie. Was wollten sie von ihr? Gab es hier nicht genug Frauen? Wahre Schönheiten befanden sich darunter; eingehüllt in farbige Kleider, sahen sie wie die ge
öffneten Knospen auf jenen Glückwunschkarten aus. Sascha vermutete, dass die Männer sich nur über sie lustig machten. War sie denn überhaupt in der Lage, die Neugier eines Mannes zu wecken?
Plötzlich begann ein bisher unbekannter Zweifel an ihr zu nagen. Vielleicht verstand sie das alles falsch . Aber warum sollte es anders sein? Etwas in ihr begann sich schmerzhaft zu regen, dort, unterhalb des Rippenbogens, in jener sanften Mulde ihres Körpers... nur tiefer. An ebenjener Stelle, deren Existenz sie erst vierundzwanzig Stunden zuvor für sich entdeckt hatte. Um ihre Unruhe zu vertreiben, schlenderte sie erneut die Verkaufsstände entlang, auf denen alle möglichen Waren auslagen Panzerwesten und Nippes, Kleidung und Geräte -, doch interessierte sie sich kaum noch dafür. Ihre innere Stimme hatte die lärmende Menge in den Hintergrund gedrängt, und die Bilder, die ihre Erinnerung malte, waren plastischer als all die lebenden Menschen um sie herum. War sie sein Leben wert? Würde sie ihn noch verurteilen können nach dem, was geschehen war? Und vor allem: Welchen Sinn hatten ihre dummen Gedanken jetzt noch? Jetzt, da sie nichts mehr für ihn tun konnte .
Plötzlich, noch bevor Sascha begriff, warum, schwanden alle Zweifel, und ihr Herz beruhigte sich. Sie horchte in sich hinein und vernahm das Echo einer fernen Melodie, die von außen kam und neben dem vielstimmigen Chor der Menge dahinströmte, ohne sich damit zu vermischen. Musik, das bedeutete für Sascha, wie für jeden Menschen, zunächst die Wiegenlieder ihrer Mutter. Doch damit hatte sie sich jahrelang begnügen müssen: Ihr Vater war nicht musikalisch gewesen und hatte nur ungern gesungen; auch Wandermusikanten und andere Gaukler waren ihm an der Awtosawodskaja nicht willkommen gewesen. Und wenn die Wachleute am Lagerfeuer ihre schwermütigen oder feurigen Soldatenlieder krächzten, hatten sie dabei weder ihre verstimmten Sperrholzgitarren noch Saschas innerlich gespannte Saiten wirklich zum Klingen gebracht.
Aber was sie nun hörte, war kein langweiliges Geklampfe. Am meisten ähnelte es der perlenden, sanften Stimme einer jungen Frau, ja eines Mädchens, jedoch unerreichbar hoch für jede menschliche Kehle und zugleich ungewöhnlich kräftig. Doch womit war dieses Wunder sonst zu vergleichen?
Der Gesang des unbekannten Instruments verzauberte die Umstehenden, hob sie in die Höhe und trug sie fort in eine unendliche Ferne, in Welten, die allen, die in der Metro geboren waren, unbekannt waren und deren Möglichkeiten sie nicht einmal erahnten. Diese Musik ließ die Leute träumen und machte sie glauben, dass alle Träume Wirklichkeit werden konnten. Sie weckte in ihnen eine unbegreifliche Sehnsucht und versprach zugleich, diese zu stillen. Und sie gab Sascha das Gefühl, als hätte sie auf einer verlassenen Station, auf der sie lange umhergeirrt war, plötzlich eine Lampe gefunden und im Schein dieser Lampe sogleich den Ausgang entdeckt.
Sie stand vor dem Zelt eines Waffenschmieds. Direkt vor ihr ragte ein Sperrholzbrett auf, an dem verschiedene Messer festgeschraubt waren -von kleinen Taschenmessern bis hin zu mörderischen handlangen Dolchen. Sascha betrachtete reglos, wie verzaubert all diese Klingen.
In ihr tobte ein wilder Kampf. Ein einfacher und verlockender Gedanke drängte sich ihr auf. Der Alte hatte ihr eine Handvoll Patronen mitgegeben, gerade genug für dieses schwarze Messer mit der gezackten Klinge -ein breites, scharfes Exemplar, das sich wie kaum ein anderes für ihren Plan eignete.
Nach einer Minute hatte Sascha ihren Entschluss gefasst und sich überwunden. Ihren Kauf verbarg sie in der Brusttasche ihrer Latzhose - möglichst nah an jener Stelle, deren Schmerz sie bekämpfen wollte. Als sie ins Lazarett zurückkehrte, spürte sie weder die Schwere ihrer Soldatenjacke noch das Ziehen in den Schläfen.
Die Menge überragte das Mädchen, und der Musiker, der in der Ferne diese wunderlichen Töne erzeugte, blieb für sie unsichtbar. Die Melodie jedoch schien sie einholen, sie zur Umkehr bewegen, es ihr ausreden zu wollen.
Vergebens. Wieder klopfte es
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