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Metro 2034

Metro 2034

Titel: Metro 2034 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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an der Tür. Homer erhob sich ächzend von den Knien, wischte sich die Lippen am Ärmel ab und zog an der Kette der Spülung.
    Auf dem schmutzig grünen Stoff seiner Jacke war ein brauner Streifen zurückgeblieben. Er erbrach sich schon zum fünften Mal innerhalb eines Tages, obwohl er eigentlich nichts gegessen hatte. Diese Symptome konnten unterschiedliche Gründe haben, redete er sich ein. Warum musste es unbedingt ein beschleunigter Krankheitsverlauf sein?
    Vielleicht lag es ja auch an. »Sind Sie bald fertig?«, keifte eine ungeduldige Frauen-stimme.
    Herrje!Hatte er in der Eile die Buchstaben an der Tür verwechselt? Homer fuhr mit dem schmutzigen Ärmel über das verschwitzte Gesicht, setzte eine unerschütterliche Miene auf und schob den Riegel beiseite. »Typisch Schnapsbruder!« Ein aufgetakeltes Weibsstück stieß ihn beiseite und schlug die Tür zu.
    Soso, dachte Homer. Sollten sie ihn ruhig für einen Säufer halten. Er trat vor den Spiegel über dem Waschbecken und lehnte die Stirn dagegen. Allmählich kam er wieder zu Atem, sah zu, wie das Spiegelglas anlief, und zuckte zusammen: Sein Mundschutz war herabgerutscht und hing unter seinem Kinn. Hastig schob er ihn wieder vors Gesicht und schloss die Augen. Nein, er durfte nicht ständig daran denken, dass er allen Menschen, denen er begegnete, den Tod brachte. Eine Umkehr war ausgeschlossen: Wenn er infiziert war - sofern er die Symptome nicht verwechselte -, war die gesamte Station so oder so dem Tod geweiht. Angefangen bei dieser Frau, deren Schuld nur darin bestand, dass sie zur falschen Zeit »für kleine Mädchen« gemusst hatte. Was würde sie tun, wenn er ihr jetzt sagte, dass sie höchstens noch einen Monat zu leben hatte?
    Wie albern, dachte Homer. Albern und töricht. Er hatte sie verewigen wollen, alle, die er auf seinem Lebensweg traf.
    Nun war sein Schicksal das eines Todesengels, und zwar von der tölpelhaften, glatzköpfigen, kraftlosen Sorte. Er fühlte sich, als hätte man ihm die Flügel gestutzt und ihn beringt: Eine Frist von dreißig Tagen hatte man ihm eingraviert - so lange hatte er Zeit zu handeln.
    War dies die Strafe für Selbstüberschätzung und Stolz? Nein, er durfte jetzt nicht mehr schweigen. Und es gab nur einen Menschen, dem er sich offenbaren konnte. Ihn würde Homer ohnehin nicht lange täuschen können, und es war sicher für beide einfacher, wenn sie mit offenen Karten spielten. Mit unsicheren Schritten machte er sich auf den Weg zur Krankenstation.
    Das Zimmer befand sich am hintersten Ende des Ganges, und für gewöhnlich saß eine Krankenschwester davor, doch jetzt war der Platz leer. Durch den Türspalt drang ein gebrochenes Stöhnen. Einzelne Worte waren zu verstehen, aber obwohl Homer lange reglos horchte, konnte er sie nicht zu sinnvollen
    Sätzen zusammenfügen. »Stärker... Kämpfen... muss... noch Sinn... Widerstand . erinnern . geht noch . Fehler . verurteilen.«
    Die Worte waren in ein Knurren übergegangen, als wäre der Schmerz unerträglich geworden und hindere den Sprecher daran, die hin und her jagenden Gedanken einzufangen. Homer betrat das Zimmer.
    Hunter lag bewusstlos hingestreckt auf zerwühlten, feuchten Laken. Der Verband, der den Schädel des Brigadiers zusammenpresste, war ihm über die Augen gerutscht, die ausgehöhlten Wangen bedeckten Schweißperlen, der borstige Unterkiefer hing schlaff herab. Seine breite Brust hob und senkte sich angestrengt wie der Blasebalg eines Schmieds, der nur mit Mühe das Feuer in dem zu großen Körper am Laufen hielt.
    Am Kopfende des Betts stand mit dem Rücken zu Homer das Mädchen, die schmalen Hände hinter dem Rücken verschränkt. Nicht gleich, erst bei näherem Hinsehen bemerkte Homer schemenhaft vor dem dunklen Stoff ihrer Latzhose das schwarze Messer, dessen Griff sie krampfhaft festhielt.
    Das Klingeln. Wieder. Und wieder. Tausendzweihundertfünfunddreißig. Tausendzweihundertsechsunddreißig. Tausendzweihundertsiebenunddreißig.
    Artjom zählte die Töne nicht etwa mit, weil er sich vor dem Kommandeur rechtfertigen wollte. Er tat es, um eine Art Bewegung zu spüren. Wenn er sich von dem Punkt entfernte, an dem er zu zählen begonnen hatte, so bedeutete dies, dass er sich mit jedem Läuten einem Punkt näherte, an dem dieser Wahnsinn endlich ein Ende nahm.
    Selbstbetrug? Ja, wahrscheinlich. Doch diesem Klingeln zuzuhören und zu wissen, dass es niemals aufhören würde, war unerträglich. Obwohl es ihm anfangs, bei seinem allerersten Einsatz, sogar

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