Metro2033
bändigte Bruder Ioann die allgemeine Hysterie und breitete die Arme aus. »Hört die fünfte Lektion: Was hat Gott mit der Erde vor? Jehova hat sie erschaffen, damit die Menschen auf ihr in Ewigkeit glücklich leben! Die Erde wird niemals zerstört werden! Sie wird ewig existieren!«
Nun hielt es Artjom nicht mehr aus. Er schnaubte verächtlich. Sogleich richteten sich wütende Blicke auf ihn, und Bruder Timofej drohte ihm mit dem Finger.
»Adam und Eva, die ersten Menschen, sündigten, indem sie Gottes Gesetz missachteten«, fuhr der Prediger fort. »Darum vertrieb Jehova sie aus dem Paradies, und das Paradies ging verloren. Doch Jehova hat nicht vergessen, wozu Er die Erde erschaffen hat. Er hat versprochen, sie in ein Paradies zu verwandeln, in dem die Menschen ewig leben würden. Wie wird Er diesen Plan in Erfüllung bringen?«
Der langen Pause nach zu urteilen, stand der entscheidende Augenblick der Predigt bevor. Artjom spitzte die Ohren, als Bruder Ioann unheilvoll verkündete: »Bevor die Erde zum Paradies wird, müssen die bösen Menschen beseitigt werden. Unseren Vorfahren wurde offenbart, dass die Reinigung im Harmageddon erfolgen wird, dem Krieg Gottes zur Vernichtung des Bösen. Sodann wird Satan für tausend Jahre in Fesseln gelegt werden. Und niemand mehr wird der Erde Schaden zufügen. Nur das Volk Gottes wird überleben. Tausend Jahre lang wird unser Herr Jesus Christus herrschen!« Der Prediger richtete seinen glühenden Blick auf die vorderen Reihen seiner Zuhörer. »Begreift ihr, was das bedeutet? Gottes Krieg zur Vernichtung des Bösen ist bereits zu Ende! Das, was mit unserer sündigen Erde geschehen ist, war bereits das Harmageddon. Das Böse liegt in Staub und Asche! Gemäß der Weissagung wird nur das Volk Gottes überleben. Und wir, die wir in der Metro leben, wir sind das Volk Gottes, denn wir haben das Harmageddon überlebt. Das Reich Gottes naht! Schon bald wird es weder Alter noch Krankheit noch Tod geben. Die Gebrechlichen werden wieder gesund, die Greisen wieder jung. In der Tausendjahrherrschaft Jesu werden die Gottgläubigen die Erde in das Paradies verwandeln, und Gott wird Millionen von Toten auferwecken!«
Artjom dachte an das Gespräch zwischen Suchoj und Hunter zurück. Sie hatten sich darüber unterhalten, dass die Strahlung an der Oberfläche mindestens fünfzig Jahre lang so hoch bleiben würde wie jetzt. Sie hatten auch davon gesprochen, dass die Menschheit verdammt sei und dass neue biologische Arten entstehen würden. Wie wollte Bruder Ioann da die Erde in ein blühendes Paradies verwandeln?
Artjom wollte ihn fragen, welche unheimlichen Pflanzen in diesem ausgebrannten Paradies wachsen würden und welche Menschen den Mut haben würden, nach oben zu gehen, um es zu besiedeln, und ob Artjoms Eltern Satans Kinder gewesen seien, weil sie in dem Krieg um die Vernichtung des Bösen gestorben seien. Er spürte, wie Bitterkeit und Misstrauen in ihm aufstiegen, seine Augen brannten, und schamerfüllt bemerkte er, wie eine Träne seine Wange herablief ... Er holte tief Luft und stieß hervor: »Und was sagt Jehova zu den kopflosen Mutanten?«
Die Frage hing in der Luft. Bruder Ioann würdigte ihn nicht einmal eines Blickes, doch einige der Zuhörer drehten sich erschrocken und befremdet nach ihm um. Sogleich rückten sie von ihm ab, als ob von ihm erneut ein übler Gestank ausging. Bruder Timofej griff nach seiner Hand, doch Artjom riss sich los, stieß die Brüder auseinander, bahnte sich einen Weg zum Ausgang. Einige Male versuchte jemand ihm ein Bein zu stellen, einer hieb ihm sogar die Faust in den Rücken, und von hinten hörte er entrüstetes Zischeln.
Er verließ den Königreichssaal und durchquerte den zweiten Waggon. Jetzt saßen viele Menschen an den Tischen, und jeder hatte eine leere Aluminiumschüssel vor sich stehen. In der Mitte des Raumes geschah offenbar etwas Interessantes, weswegen aller Augen dorthin gerichtet waren. Ein hagerer, unansehnlicher Mann mit Hakennase stand dort und sprach: »Bevor wir mit dem Mahl beginnen, Brüder, lasst uns die Geschichte des kleinen David hören, als Ergänzung zu der heutigen Predigt über die Gewalt.«
Der Mann trat zur Seite, und seinen Platz nahm ein pummeliger, stupsnasiger Junge mit glatt gekämmten weißblonden Haaren ein. Mit einer Stimme, mit der Kinder Gedichte aufsagen, fing er an zu sprechen: »Er war wütend und wollte mich verprügeln. Wahrscheinlich nur, weil ich so klein bin. Ich bin zurückgewichen und
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