Metro2033
erfinden.«
»Na, na ...« Sergej Andrejewitsch seufzte enttäuscht. »Ich werde dir jetzt eine kleine Theorie schildern. Danach kannst du selbst beurteilen, ob sie zu deinem Leben passt oder nicht. Natürlich glaube auch ich, dass das Leben eitel und sinnlos ist und dass es kein Schicksal gibt, zumindest kein bestimmtes, offenkundiges, das man schon von Geburt an kennt. Nein, das nicht. Aber wenn du eine gewisse Zeit gelebt hast - wie soll ich sagen? - kann es vorkommen, dass dir etwas passiert, was dich dazu bringt, bestimmte Dinge zu tun und Entscheidungen zu treffen. Wobei du immer die Wahl hast, das eine zu tun oder aber etwas anderes. Wenn du jedoch die richtige Entscheidung triffst, so sind die Dinge, die dir im Weiteren passieren, nicht mehr rein zufällig, sondern bedingt durch die Wahl, die du zuvor getroffen hast. Ich will damit nicht sagen, dass dein weiteres Schicksal damit vorbestimmt ist. Aber angenommen, du stehst erneut am Scheideweg, so wird dir diese Entscheidung nicht mehr ganz so zufällig vorkommen. Natürlich nur, wenn du deine Wahl bewusst triffst. Dann ist ein Leben schon bald keine Ansammlung von Zufällen mehr, sondern hat tatsächlich eine gewisse Handlung, in der alles logisch miteinander verknüpft ist, wenn es auch nicht unbedingt immer unmittelbare Verbindungen sind. Das ist dann dein Schicksal. Und wenn du deinen Weg lange genug verfolgst, wird dein Leben so sehr einer Handlung gleichen, dass auf einmal Dinge mit dir passieren, die sich mit nackter Vernunft oder deiner Theorie der zufälligen Verkettung nicht mehr erklären lassen. Dafür passen sie aber ausgezeichnet zur Logik der Handlungsstränge, nach denen sich dein Leben jetzt richtet. Ich denke, das Schicksal kommt nicht von allein zu dir, du musst schon selbst dorthin gehen. Aber wenn sich die Ereignisse in deinem Leben einmal zu einer Handlung verdichten, so kann dich das sehr weit bringen ... Das Interessante dabei ist, dass man selbst mitunter gar nicht merkt, wenn es einem passiert. Oder man hat eine ganz falsche Vorstellung davon, weil man versucht, die Ereignisse nach dem eigenen Weltbild zu ordnen. Das Schicksal hat jedoch seine eigene Logik.«
Anfänglich hatte Artjom diese seltsame Theorie als völligen Humbug empfunden, aber während Sergej Andrejewitsch sie in allen Einzelheiten erklärte, veränderte sich allmählich Artjoms Blickwinkel auf das, was ihm widerfahren war, seit er Hunters Auftrag angenommen hatte.
All seine Abenteuer, seine vergeblichen, verzweifelten Versuche, ans Ziel zu gelangen - auch wenn er bisweilen gar nicht mehr begriff, warum er das eigentlich tat -, kamen ihm nun wie ein komplex aufgebautes System vor, eine zwar etwas verschnörkelte, aber doch durchdachte Konstruktion.
Wenn Artjoms Zusage tatsächlich der erste Schritt auf diesem Weg gewesen war, so waren die weiteren Ereignisse - die Expedition zur Rischskaja, die Begegnung mit Bourbon - der nächste gewesen. Und dann war Khan ihm entgegengegangen, obwohl er an der Sucharewskaja hätte bleiben können ... All dies ließ sich natürlich auch auf andere Weise erklären. Khan zum Beispiel hatte ganz andere Gründe für sein Handeln genannt. Doch dann war Artjom den Faschisten in die Hände gefallen. Beinahe wäre er erhängt worden, aber aufgrund eines völlig unwahrscheinlichen Zufalls verübte die Brigade gerade an diesem Tag einen Überfall auf die Twerskaja. Wären die Revolutionäre nur einen Tag früher oder später gekommen, Artjoms Tod wäre unausweichlich und seine Reise am Ende gewesen.
Konnte es wirklich sein, dass die Hartnäckigkeit, mit der er seinen Weg fortsetzte, sich auf die weiteren Ereignisse auswirkte? Waren es wirklich seine Entschlossenheit, Wut und Verzweiflung, die auf wundersame Weise die Wirklichkeit beeinflussten, aus einer chaotischen Ansammlung von Geschehnissen, Taten und Gedanken ein geordnetes System flochten und so, wie Sergej Andrejewitsch gesagt hatte, seinem Leben eine sinnvolle Handlung verliehen?
Auf den ersten Blick war das unmöglich. Aber je mehr er darüber nachdachte ... Wie sonst konnte man die Begegnung mit Mark erklären, der Artjom die einzig mögliche Chance verschafft hatte, auf das Gebiet der Hanse vorzudringen? Dann, als er sich bereits mit seinem Schicksal als Latrinenputzer abgefunden hatte, war er einfach blind losgegangen, und das Unmögliche geschah: Der Wächter, der an seinem Posten hätte stehen müssen, war verschwunden, nicht einmal eine Verfolgung hatte es gegeben. War er
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