Metro2033
zu beschwichtigen. »Aber sie haben mich aufgenommen und mir geholfen, als es mir sehr schlecht ging.«
Jewgeni Dmitrijewitsch nickte. »Jaja, so arbeiten sie. Ich erkenne die Handschrift. Alle Waisen und Armen ... oder so etwas in der Art.«
»Ich war bei einer ihrer Versammlungen, wo sehr seltsame Dinge gesagt wurden. Zum Beispiel, dass die größte Untat Satans darin besteht, dass er auch Ruhm und Anbetung für sich wollte. Geht es also nur um Neid? Dreht sich in der Welt etwa alles nur darum, dass irgendwann einmal jemand seinen Ruhm nicht teilen wollte?«
»Keineswegs«, versicherte Sergej Andrejewitsch, nahm die Wasserpfeife aus der Hand seines Freundes entgegen und zog daran.
»Und noch etwas. Sie sagen, dass die wichtigsten Eigenschaften Gottes Barmherzigkeit, Güte und Milde sind, dass er der allmächtige Gott der Liebe ist. Aber schon beim ersten Ungehorsam hat er den Menschen aus dem Paradies vertrieben und ihn sterblich gemacht. Dann kommen unzählige Menschen um, und am Ende schickt Gott Seinen Sohn, damit er die Menschen erlöst. Doch dieser Sohn stirbt selbst einen furchtbaren Tod. Zuvor ruft er noch seinen Vater an, warum er ihn verlassen hat. Und wozu das alles? Um mit seinem eigenen Blut die Sünde des ersten Menschen zu sühnen. Damit die Menschen ins Paradies zurückkehren und wieder die Unsterblichkeit erlangen. Aber warum so umständlich? Man hätte all diese Menschen auch weniger hart bestrafen können, schließlich waren sie selbst gar nicht an der Tat beteiligt. Und überhaupt hätte man die Strafe wegen Verjährung aussetzen sollen. Wozu den geliebten Sohn opfern und ihn noch verraten? Wo ist hier die Liebe, die Milde, die Allmacht?«
»Etwas grob und vereinfacht dargestellt, aber im Großen und Ganzen korrekt«, kommentierte Sergej Andrejewitsch und reichte die Wasserpfeife zurück.
»Also, was ich dazu sagen kann ...« Jewgeni Dmitrijewitsch nahm einen tiefen Zug, lächelte selig und fuhr fort: »Selbst wenn ihr Gott bestimmte charakteristische Eigenschaften hat, so sind dies mit Sicherheit nicht Liebe, Gerechtigkeit oder Sanftmut. Angesichts all dessen, was auf der Erde geschehen ist seit ihrer Erschaffung, hat Gott nur eine Art von Liebe an den Tag gelegt: die Vorliebe für interessante Geschichten. Erst brockt er irgendwem was ein, und dann schaut er, was dabei herauskommt. Ist es zu fade, tut er Pfeffer hinein. Insofern hat der alte Shakespeare schon recht: Die ganze Welt ist ein Theater. Nur ein ganz anderes, als er meinte.«
»Allein heute Morgen«, bemerkte Sergej Andrejewitsch, »hast du dir mit deinen Reden schon wieder ein paar Jahrhunderte Hölle verdient.«
»Dann hast du wenigstens jemanden, mit dem du dich unterhalten kannst.«
»Andererseits kann man dort sicher auch eine Menge interessanter Bekanntschaften machen.«
»Zum Beispiel mit den höchsten Vertretern der katholischen Kirche.«
»Ohja, mit denen sicher. Aber streng genommen sind unsere schon auch ...«
Die beiden glaubten offensichtlich nicht wirklich, dass sie für ihre Worte irgendwann einmal würden büßen müssen. Jewgeni Dmitrijewitschs Äußerung jedoch, das Schicksal des Menschen sei nichts anderes als eine interessante Geschichte, brachte Artjom auf einen anderen Gedanken. »Ich habe ziemlich viele Bücher gelesen. Und mich immer gewundert, warum dort nichts so ist wie im richtigen Leben. Verstehen Sie, dort sind alle Ereignisse in einer Linie angeordnet, alles hängt miteinander zusammen, das eine ergibt sich aus dem anderen, nichts geschieht einfach so. Aber in Wirklichkeit ist es doch ganz anders! Das Leben ist voller unzusammenhängender Ereignisse, die völlig unabhängig voneinander vor sich gehen. Da gibt es keine logische Reihenfolge. In Büchern dagegen schon: Es gibt einen Anfang, dann beginnt sich etwas zu entwickeln, irgendwann kommt dann die Spitze, und schließlich das Ende.«
»Der Höhepunkt, nicht die Spitze«, korrigierte Sergej Andrejewitsch gelangweilt.
»Na gut, der Höhepunkt«, fuhr Artjom etwas verunsichert fort. »Jedenfalls ist es im Leben anders: Die Abfolge der Ereignisse findet manchmal keinen logischen Abschluss, und wenn doch, ist damit noch lange nichts zu Ende.«
»Du meinst, das Leben hat keine Handlung?«
Artjom dachte kurz nach, dann nickte er.
Sergej Andrejewitsch neigte den Kopf zu Seite und musterte Artjom. »Und was ist mit dem Schicksal, glaubst du daran?«
»Nein. Es gibt kein Schicksal. Nur zufällige Ereignisse, deren Sinn wir erst im Nachhinein
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