Metro2033
haben die jemals wen gefangen? Oder gesehen?«
»Woher sollen wir das wissen? Ich habe jedenfalls nichts gehört. Es gibt ja auch nichts zu fangen.«
»Und was sagen die Leute von dort dazu?«
Sergejitsch blickte sich um und flüsterte: »Die Stadt der Toten ...« Dann bekreuzigte er sich erneut.
Eigentlich hätte sich Artjom einmal mehr darüber amüsieren können, wie viele Geschichten, Märchen und Legenden es über die Wohnorte der Toten in der Metro gab. Mal hausten ihre Seelen in den Rohren, andere wollten sich zum Tor der Hölle durchgraben, und nun gab es noch eine Stadt der Toten: am Park Pobedy. Doch ein gespenstischer Luftstrom erstickte das Lachen in Artjoms Hals, und trotz seiner warmen Kleidung fröstelte es ihn. Am schlimmsten war, dass Melnik nichts mehr sagte. Artjom hatte insgeheim gehofft, der Stalker werde spöttisch abwinken und die ganze Vorstellung für verrückt erklären.
Den Rest des Weges gingen sie schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Bis zur Kiewskaja war der Tunnel ruhig, leer, trocken und sauber. Doch mit jedem Schritt verstärkte sich die düstere Vorahnung: Etwas Unheilvolles erwartete sie.
Dann, als sie die Station betraten, erfasste es sie sogleich, wie Grundwasser, das von oben durchbrach, unaufhaltsam, trüb und eisig. Hier herrschte die Angst allein, das sah man auf den ersten Blick. Sollte dies etwa die »sonnige« Kiewskaja sein, wie sie Artjoms kaukasischer Zellengenosse genannt hatte? Oder hatte dieser die Station gleichen Namens auf der benachbarten Filjowskaja-Linie gemeint?
Die Kiewskaja machte nicht direkt einen heruntergekommenen oder gar verlassenen Eindruck. Es schienen sogar relativ viele Menschen hier zu wohnen, doch hatte man den Eindruck, dass die Station nicht ihnen gehörte. Sie hausten dicht gedrängt, und sämtliche Zelte drückten sich an die Wände in der Mitte des Saals. Niemand hielt den vorgeschriebenen
Mindestabstand ein - die Bewohner hatten offenbar schlimmere Sorgen als die Brandgefahr. Wenn Artjom die Passanten anblickte, so wandten diese scheu das Gesicht ab; sie machten den Fremden Platz und verkrochen sich wie Küchenschaben in irgendwelchen Winkeln.
Der Mittelsaal der Station war eingezwängt zwischen zwei Reihen niedriger Rundbögen. Ganz hinten führten Rolltreppen nach unten, und an einer Stelle gab es eine Treppe, über die man hinauf in den Übergang zur anderen Kiewskaja-Station gelangte. Hier und da sah Artjom glühende Kohlen, und der intensive Geruch von gebratenem Fleisch hing in der Luft. Irgendwo weinte ein Kind. Mochte die Kiewskaja auch der Vorhof zu einer fiktiven Totenstadt sein - sie selbst war jedenfalls durchaus am Leben.
Hastig verabschiedeten sich die Händler und verschwanden in dem Durchgang zur benachbarten Linie. Melnik blickte sich um und ging entschlossen auf einen der anderen Durchgänge zu. An dieser Station kannte er sich aus, das spürte Artjom. Warum hatte er dann die Händler so genau über die Station ausgefragt? Hatte er gehofft, ihre Märchengeschichten könnten ihm wichtige Hinweise auf die tatsächliche Lage geben? Oder waren es nur Fangfragen gewesen, um mögliche Spione zu entlarven?
Kurz darauf machten sie vor dem Eingang zu den Diensträumen halt. Die Tür war aus den Angeln gebrochen worden, doch vor dem Eingang stand ein Posten. Die Stationsleitung, begriff Artjom.
Ein glatt rasierter älterer Herr mit exakt gekämmten Haaren kam Melnik entgegen. Er trug die alte blaue Uniform eines Metro-Angestellten, die zwar abgenutzt und verblichen, dafür aber erstaunlich sauber war. Artjom bemerkte außerdem, in welch guter Form der Mann zu sein schien. Dieser salutierte vor Melnik, jedoch nicht so ernst wie die beiden Wachposten im Tunnel, sondern mit einem ironischen Lächeln. »Guten Tag, Herr Oberst«, sagte er mit einer angenehm tiefen Stimme, worauf der Stalker ihn ebenfalls lächelnd begrüßte.
Zehn Minuten später saßen sie in einem warmen Zimmer und tranken - wie sollte es anders sein - Pilztee. Diesmal hatte man Artjom nicht hinausgeschickt, und so war er zum ersten Mal bei der Erörterung wichtiger Angelegenheiten zugegen. Leider verstand er von dem Gespräch mit dem Stationsvorsteher, den Melnik Arkadi Semjonowitsch nannte, so gut wie gar nichts. Erst erkundigte sich Melnik nach einem gewissen Tretjak, dann fragte er, ob in den Tunneln irgendwelche Veränderungen zu beobachten gewesen seien. Der Vorsteher erwiderte, Tretjak sei in eigenen Angelegenheiten unterwegs, werde
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