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Metro2033

Titel: Metro2033 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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dort umsteigen zur Station Tschistyje Prudy - den »Sauberen Teichen«, wie es auf dem alten Plan noch hieß -, dann die rote Linie, die Sokolnitscheskaja, entlang direkt bis zur Polis. In der Ära der Züge und Tageslichtlampen hätte diese Fahrt nicht einmal dreißig Minuten gedauert. Doch seit die Rote Linie wieder mit großem R geschrieben wurde, hing das kommunistische Banner über dem Durchgang zu den »Sauberen Teichen« und die Station hatte als solche zu existieren aufgehört. Sich hier einen Weg zur Polis zu suchen war nicht einmal mehr einen Gedanken wert.
    Die Führung der Roten Linie hatte es zwar aufgegeben, die Bevölkerung der Metro durch Machtausdehnung der Sowjets zu ihrem Glück zu zwingen. Aber trotz allem Anschein der Friedfertigkeit hatte sich der paranoide Charakter des Regimes kein bisschen geändert. Noch immer beobachteten Hunderte von Agenten des Geheimdienstes, den man aus Gewohnheit mancher sogar mit einer gewissen Nostalgie - KGB nannte, unablässig das Leben der glücklichen Bewohner der Roten Linie, und ihr Interesse an Gästen von anderen Linien war wahrhaft grenzenlos. Ohne Sondergenehmigung konnte kein Mensch auf eine ihrer Stationen gelangen. Ständige Passkontrollen, totale Beobachtung sowie allgemeines, pathologisches Misstrauen sorgten dafür, dass sowohl verirrte Reisende wie auch speziell beauftragte Spione sofort aufflogen. Die einen wie die anderen erwartete ein betrübliches Schicksal.
    Nun, der Weg ins Herz der Metro - zur Polis - konnte ja wohl auch nicht einfach sein! Die Polis ... Wenn dieser Name in einem Gespräch fiel, verstummte Artjom ehrfürchtig - und so erging es den meisten Menschen. Artjom erinnerte sich genau daran, wie er dieses unbekannte Wort zum ersten Mal in der Erzählung eines Gastes seines Stiefvaters gehört hatte. Und als er Onkel Sascha später vorsichtig danach fragte, hatte der mit einem Anflug von Wehmut in der Stimme erwidert: »Dies, Artjomka, ist wahrscheinlich der letzte Ort auf der Erde, wo die Menschen noch wie Menschen leben. Wo sie noch nicht vergessen haben, was das Wort >Mensch< bedeutet, und wie es genau klingen muss.« Und traurig lächelnd hatte der Stiefvater hinzugefügt: »Es ist eine Stadt.«
    Die Polis befand sich am größten Übergang der Moskauer Untergrundbahn, am Schnittpunkt von vier verschiedenen Linien, und nahm ganze vier Metrostationen ein: die Alexandrowski Sad, die Arbatskaja, die Borowizkaja und die Biblioteka imeni Lenina. Sowie die Verbindungsgänge dazwischen. Dieses riesige Gelände war der letzte wirkliche Hort der Zivilisation, der letzte Ort, wo so viele Menschen lebten, dass alle Provinzler, die einmal dort gewesen waren, ihn nur als »die Stadt« bezeichneten. Irgendjemand hatte dann das griechische Wort für Stadt ins Spiel gebracht: Polis. Und vielleicht lag es daran, dass in diesem Wort das ferne Echo einer mächtigen antiken Kultur mitschwang, die den Ansässigen gleichsam Schutz gewährte - jedenfalls bürgerte sich der fremde Name ein.
    Die Polis war ein einzigartiges Phänomen in der Metro. Dort und nur dort traf man noch Hüter des alten Wissens an, das in der harten neuen Welt mit ihren völlig anderen Gesetzen keine Anwendung mehr fand. Während die Metro in einem Strudel aus Chaos und Ignoranz versank, fanden die Träger des nutzlosen, alten Wissens in der Polis ihre Zuflucht, dort wurden sie mit offenen Armen empfangen, denn dort herrschten ihre Brüder im Geiste. Nur in der Polis lebten noch tatterige Professoren, einst Inhaber von Lehrstühlen an berühmten Universitäten, nur dort lebten noch Künstler, Schauspieler und Dichter, Physiker, Chemiker und Biologen -Menschen, die in ihren Köpfen all das bewahrten, was die Menschheit in Jahrtausenden erreicht und erfahren hatte. Menschen, mit deren Tod all das für immer verloren gehen würde.
    Die Polis befand sich an jener Stelle, wo früher einmal das Zentrum der Stadt gewesen war. Direkt über ihr ragte das Gebäude der Lenin-Bibliothek auf, das umfangreichste Wissensarchiv einer vergangenen Epoche. Hunderttausende von Büchern in Dutzenden von Sprachen, die wahrscheinlich alle Gebiete umfassten, auf denen der menschliche Geist jemals tätig gewesen war. Hunderte von Tonnen Papier, verziert mit Buchstaben, Zeichen, Hieroglyphen, die zum Teil schon niemand mehr verstand - und doch konnte noch eine enorme Zahl von Büchern gelesen und verstanden werden, und ihre vor Jahrhunderten verstorbenen Autoren konnten den Lebenden noch vieles

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