Metropolis brennt
gegen die Front der Blauen. Wunderte sich nicht, daß er warf, er, Hansen. Dachte nur: Besser werfen als schreien. Besser werfen als zusammenbrechen und in ihre Hände fallen.
… wurde mitgerissen von Flüchtenden. Schreie und Panik. Flucht, vorbei an einer Barrikade von Mülltonnen, hinter der sich ein offensichtlich organisierter Trupp von Menschen formiert hatte, hinter einer wehenden Fahne, die irgendwie aus dem Nichts aufgetaucht war.
Flucht in eine dunkle und schmale Seitengasse.
Da war schon einer. Ein Blauer? Nein, auch nur ein Flüchtender. Hansen hielt einen Moment inne, um Atem zu schöpfen.
Der andere Flüchtling – ein junger Mann wie er – sprach ihn an: „Hast du schon gehört? Sie haben eine neue Taktik gegen uns.“
Hansen schüttelte keuchend den Kopf.
„Sie holen sich Oppositionelle von der Straße und kehren sie um. So eine Art Gehirnwäsche. Sie nehmen ihnen ihre alte Identität weg und geben ihnen eine neue. Auch einen neuen Namen. Es soll über ein Codewort funktionieren, über ein Wort, daß Ekelgefühle bei dem hervorruft, den sie umpolen. Keiner weiß etwas Genaues. Aber viele sind verschwunden in der letzten Zeit. Man muß aufpassen!“
„Ich weiß nichts davon“, antwortete Hansen. „Und ich will auch nichts davon wissen!“ Er hatte genug von dem versponnenen Gerede der Leute. Waren sie denn alle verrückt geworden? Er ließ den anderen stehen und rannte weiter in die dunkle Gasse hinein.
Er geriet auf einen verkommenen Hinterhof mit öligen Pfützen und verrosteten Automobilkarosserien. Der Kampflärm im Hintergrund trieb ihn an. Vorn eine Mauer. Ohne nachzudenken kletterte Hansen auf das Dach eines abgewrackten Lastwagens, zog sich an der Mauer hoch, sprang rüber.
Auf der anderen Seite lehnte er sich an und ruhte aus. Er weinte sich den letzten Rest Tränengas aus den Augen.
Weinte hemmungslos und wußte nicht: Ist es das Tränengas, nur das Tränengas?
Oben am Firmament rissen die Wolken auf, ein voller runder Mond spendete milchiges Licht, das die Umrisse eines riesigen Trümmerfeldes vor Hansen gespenstisch beleuchtete. Eines von diesen Sanierungsgebieten, die nur zerstört, nicht aber saniert worden waren.
Noch immer raste Hansens Herz haltlos, noch immer war sein Fühlen beherrscht von dem Gedanken: Weg von hier!
Schwerfällig bahnte sich Hansen einen Weg durch die Trümmer, stakste einsam über Steine, Stahlträger, brechendes Glas. Noch immer blinkte sein Leuchtpunktgürtel, sinnlos, als wolle er die Ratten warnen, die Hansen aufmerksam mit ihren tückischen roten Augen umlauerten.
Hansen trat auf etwas Weiches. Er bückte sich erschrocken, hob es auf.
Es war eine Stoffpuppe. Ihre Arme hingen in Fetzen, das Kleid mußte einmal rot gewesen sein. Ihr im Mondlicht geisterhaft blasses Gesicht starrte ihn aus toten, schwarzen Augen an. Aus dem Rücken hing ein Faden. Hansen zog daran.
„Ma-ma“, sagte die Puppe, langgezogen und klagend. „Ma-ma.“
„Ma-ma“, wiederholte Hansen, langgezogen und klagend. „Ma-ma.“
„Ma-ma, sie tun mir weh!“
Fassungslos ließ sich Hansen auf einen Stein sinken. Mein Gott, dachte er, was redest du da? Mutter, mein Gott, Mutter. Hatte er eine?
Hansen dachte angestrengt nach, fühlte sich leer und ausgebrannt. Spürte Übelkeit. Kotzte einen Schwall grüner Galle in den Dreck. Saß verloren auf dem Stein, fror und zitterte. Empfand das Trümmerfeld um sich herum plötzlich als das Trümmerfeld seiner Seele.
Hatte er eine Mutter, hatte er überhaupt jemanden?
Er war Herbert Hansen. Geboren in Dortmund am 4. 4. 1963.
Er hatte eine Mutter gehabt, aber die war früh gestorben. Er war im Waisenhaus aufgewachsen. Er lebte nicht in einer Ehe, einer
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