Metropolis brennt
Hansen selbst konnte sich der Nervosität der anderen nicht entziehen. Er begann zu laufen, erst zögernd, dann immer schneller …
… bis er auf eine Mauer von Leibern traf, deren Zinnen/Köpfe nach oben starrten.
Dort oben, auf dem Hochhaus, leuchtete grün (grün!) eine staatliche Propagandaparole:
SPART STROM, GAS UND ENERGIE
UND IHR HELFT SIEGEN!
Zentrum der Aufmerksamkeit aber war der Mensch, der neben dem überdimensionalen U von UND IHR HELFT SIEGEN ! stand, klein, dunkel, aber deutlich sichtbar im grünen Licht. Er stand nur so da, reglos, einen Schritt vor dem Abgrund.
„Wie ist er da wohl raufgekommen?“ fragte jemand. Und: „Ist das Fernsehen schon informiert? Und der Rettungsdienst?“
Die Gestalt oben hob die Arme, breitete sie aus, stand steinern wie eine Statue, signalisierend: Ich bin Jesus! Ihr sollt alle zu mir kommen!
Eine Minute verging, zwei, drei. Die Gestalt stand reglos, die Masse unten auch.
Dann zerrissen Worte die atemlose Stille, mit ungeheurer Kraft geschrien, noch zu hören im Tal der Häuserschluchten, von wo aus auch Hansen noch oben starrte.
„… Eli … Eli … lama asabthani …“
Und noch einmal, noch lauter, wütender, verzweifelter:
„… Eli … Eli … lama asabthani …“
Im nächsten Augenblick, in Bruchteilen von Sekunden, machte die Gestalt den entscheidenden Schritt nach vorn. Fiel einfach so hinunter, wurde verschluckt von der Dunkelheit.
Hansen glaubte so etwas wie einen Aufprall zu spüren, war sich aber nicht sicher. Die Menge stand noch einen Moment starr, dann erhob sich Murmeln, Bewegung kam auf, Unruhe. Und auch Hansen beschlich ein Gefühl, eine Ahnung, die ganz tief von innen kam, aus dem Urgrund des Unbewußten: Etwas stimmt nicht, etwas ist nicht in Ordnung, man muß etwas tun dagegen. Und die Stimme, die diese seltsamen Worte herausgeschrien hatte – kannte er diese Stimme nicht?
Plötzlich waren sie da, die Blauen. Sirenengeheul gellte durch die Nacht, Mannschaftswagen hielten mit quietschenden Reifen, spuckten Uniformierte aus. Einige Sekunden das Getrappel schwerer Stiefel, dann standen sie in Reih und Glied und sperrten vorn die Straße ab.
Scheinwerfer flammten auf, rissen die dunkle Masse aus ihrer Anonymität. Hansen konnte zum erstenmal Körper und Gesichter um sich herum genau erkennen.
Die Gesichter spiegelten Angst und Wut, Blässe und zornige Röte, lähmende Verzweiflung und trotzigen Kampfgeist. Die Körper zitterten nervös, wie Vulkane vor dem großen Ausbruch, und um die Hüften herum blinkten die Leuchtpunktgürtel, sinnlos jetzt im grellen Scheinwerferlicht.
Aus einer Seitenstraße donnerten schwere Hubschrauber der Blauen heran, fegten tief über die Menschen. Hansen duckte sich unwillkürlich, spürte den kalten Luftzug, hörte das nervenzerfetzende TSCHAP - TSCHAP , TSCHAP - TSCHAP , TSCHAP - TSCHAP der stählernen Rotorflügel und dann eine schneidende Stimme über Lautsprecher:
„Zerstreuen Sie sich! Zerstreuen Sie sich! Ansammlungen von mehr als zehn Personen auf öffentlichen Plätzen und Straßen sind verboten! Zerstreuen Sie sich!“
„Mörder!“ schrie jemand.
Hansen stand hilflos. Um ihn herum rissen Menschen Pflastersteine aus dem Boden. Mit bloßen Händen. Andere zogen sich widerstrebend zurück.
„Mörder!“
Die Front der Blauen vorn geriet in Bewegung. Ihre Elektropeitschen flammten auf. Sie marschierten vor. Steine flogen, Scheinwerfer klirrten und erloschen. Die Hubschrauber kamen zurück – TSCHAP - TSCHAP , TSCHAP - TSCHAP , TSCHAP - TSCHAP –, warfen Tränengasgranaten, durchsetzt mit chemischem Kampfstoff.
Hansen hustete, rannte, stolperte, stolperte über einen Pflasterstein.
Hob ihn auf, drehte sich um, warf ihn, ungezielt,
Weitere Kostenlose Bücher