Metropolis brennt
Jackenkragen hoch und paßte sich dem Schrittempo des Vorläufers an. Dann fraß sich die Kälte durch seine Jacke und machte ihn frösteln. Er ging noch schneller, wich grünen Punkten aus, überholte rote.
Und plötzlich dachte er: Wer sind sie? Jene, die man nicht sehen kann und die doch da sind wie du selbst. Wer sind sie, die hier in der Nacht herumlaufen, und warum und wozu? Und warum du? Wer bist du?
Die letzte Frage, die ihm sein Unterbewußtsein stellte, versetzte ihn in Panik. Wer bin ich? Wer bin ich? Automatisch fühlte er nach Zigaretten, fand eine Packung in der Tiefe der Jackentasche und steckte sich hastig eine an. Nach dem ersten Zug kehrte die Klarheit der Gedanken zurück, und fast hätte er laut gelacht über seine Angst.
„He, du, komm doch mal her!“
Hansen schreckte auf, sah zwei Beine schemenhaft in einem Eingang stehen. Schöne Beine, Frauenbeine.
„Ja bitte?“
„Hast du Feuer?“
„Natürlich.“
Die Frau hatte offensichtlich eine eher üppige Gestalt und schien ungewöhnlich leicht bekleidet zu sein. Sie trug keinen Leuchtpunktgürtel und roch nach billigem Parfüm. Im Licht des Feuerzeuges erkannte Hansen ein überraschend junges Gesicht, eingerahmt von wirrem rotem Haar. Die wasserblauen, verschwommenen Augen, die ihn entrückt ansahen, ließen in Hansen die Vermutung aufkommen, hier könne Rauschgift im Spiel sein.
Sie beugte sich vor, berührte ihn aufdringlich mit ihrem Busen. Dann atmete sie tief durch und blies den Rauch in die Nacht. „Fünfzig“, sagte sie, „weil es so kalt ist.“
„Nein.“
„Vierzig!“
„Es geht nicht um Geld.“
Sie schwieg einen Moment. Sie umklammerte sein Handgelenk, hielt es eisern fest, ließ es wieder los. „Oh, der Kleine will Liebe, richtige Liebe!“
Abweisend lehnte sie sich zurück in den Hauseingang.
Hansen blieb stehen, unschlüssig.
Dann fragte sie unvermittelt: „Ob es morgen wieder Blut regnet?“ und: „Warum gehst du nicht?“
„Es ist kein Blut“, sagte Hansen. „Säure oder so was.“
„Blut“, beharrte sie eigensinnig. „Es tropft von den Laternen, den Fenstervorsprüngen, läuft über den Gehweg, sammelt sich im Rinnstein. Vermischt sich mit Dreck, versickert. Ich sehe es oft, wenn ich hier stehe.“
„Es wird jedesmal vorher Alarm gegeben“, sagte Hansen. „Es kann nichts passieren.“
„Es gibt keine Vögel mehr in der Stadt!“ Sie sagte es so, als sei es ein Beweis für Blut.
Hansen wollte gehen. Wieder umklammerte sie sein Handgelenk. „Wohin gehst du?“
„In eine andere Stadt.“
„Blut“, sagte sie, „in den Städten ist nur Blut.“
„Es sind immer nur Städte, in die man gehen kann.“
Sie umklammerte sein Handgelenk noch immer, eisern.
„Dreißig!“ Es war fast eine Bitte.
Hansen riß sich los, murmelte entschuldigend: „Ich muß jetzt weg, der Zug wartet.“ Er sprang auf die Straße, lief davon.
„Blut!“ schrie sie hinterher. „In den Städten ist nur Blut!“
Hansen beschleunigte sein Tempo noch, er wollte weg von dieser überdrehten Frau. Er fühlte sich erst wieder wohl und sicher, als er sich in die Anonymität des Lichtpunktgewirrs einreihen konnte, das ihn aufsog und mit sich fortzog. Hier wurden seine Schritte wieder ruhiger, und nach einer Weile zogen ihn auch die Lichtpunkte nicht mehr in den eigentümlichen Sog des Mitmachenmüssens. Er fühlte sich allein in der Masse und doch als Person. Er fühlte sich, und das gab ihm Selbstvertrauen.
Und Blut in den Städten? Wahnideen einer Süchtigen, nichts weiter.
Plötzlich entstand irgendwo Hektik und Bewegung. Vorn begannen Menschen zu laufen. Lichtpunkte wippten schnell auf und nieder, grüne Punkte wurden plötzlich rot, ein roter Strom eilte auf einen unbekannten Punkt zu.
Jemand stieß Hansen an und entschuldigte sich nicht einmal.
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