Metropolis brennt
echt, so wunderschön echt. Ich habe nicht mehr an ihrer Realität gezweifelt.“
„Aber jetzt – jetzt sind sie abgeschaltet. Deshalb …“ Sie fröstelte, blickte sich scheu um und rieb mit den Händen über die Oberarme. Der Daunenstoff der Winterjacke raschelte leise. „Es ist unheimlich. Dieser leere, tote Wald. Verstehst du, was ich meine?“
Er nickte. „Sie sind abgeschaltet, weil heute kein offizieller Besuchstag ist. Wir sind Eindringlinge, Mirja. Wir haben kein Recht, hier zu sein. Vielleicht ist der tote Wald die Strafe dafür, ich weiß nicht. Ich empfinde es nicht einmal als Strafe. Wir sehen den Wald. Ich finde die Stille und die Leere schön. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie länger als eine Stunde richtig allein.“ Er lächelte schmal, dann winkte er ab. „Ich beschwere mich nicht.“
Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, als wolle sie versuchen, ihn trotzdem zu trösten. Die Slums der Cad-Freaks … Sie kannte sie, sie wußte, was für Elendsszenen sich dort abspielten, denn nachdem sie beim SAfCF gekündigt hatte, hatte sie sich den Streetworkern angeschlossen, die vor allem in den Slums der Stadt das größte Elend mildern halfen. Sie kümmerten sich um die Obdachlosen, die Kranken, die Nutten, Säufer, sogar um die kleinen Verbrecher, um Kranke und Sterbende … Es war ein aussichtsloser Kampf. Aber die Streetworker gaben ihn nicht auf. Und Mirja gehörte zu ihnen, kämpfte mit Leib und Seele mit ihnen, war seither geächtet, stand auf der schwarzen Liste der unangenehm aufgefallenen Personen der Stadt. Die Streeters paßten nicht mehr in das Gesamtbild der Stadt, alles war anders geworden, seit der Gesetzesentwurf zur Alleinverantwortlichkeit der Freaks mit großer Mehrheit angenommen worden war. Genaugenommen war dies der Beginn der Legalisierung einer neuen Endlösung. Die Slums und damit das Ausgestoßensein aus der Gesellschaft, den Makel der Aussätzigen, den Freaks, die Stadt den Normalen. Vharn beneidete sie nicht darum. Nicht sehr.
Mirja sagte nichts, das kurze Aufflackern ihrer Gefühle legte sich, erstarb zu einem beständigen Glimmen der Sympathie, nicht des Mitleids.
So war es auch damals gewesen, als sie sich das erste Mal begegnet waren.
Zwei Wochen liegt das erst zurück, dachte er, halb verwundert. Zwei Wochen. Sie hatten sich nicht oft gesehen. Dreimal. Sie nahm ihre Arbeit sehr ernst, und nachdem sie ihm den Prograv seines Körperstabilisierungs-Anzugs repariert hatte, war er nicht mehr hilfsbedürftig. Mehr noch: Er wollte keine Hilfe. Er konnte sich selbst helfen. Er mußte sich selbst helfen, weil …
Nein, nicht wieder diese Gedanken. Nicht jetzt.
Schweigend gingen sie nebeneinander her. Er ließ seine Blicke schweifen, nahm die Umgebung in jeder Einzelheit war, versuchte, die Retuschierung durch die Pillen wegzudenken, und zeitweise gelang ihm dies sogar.
Winter in der Stadt. Winter auch im Wald. Sie hatten ihn früh hereinbrechen lassen in diesem Jahr, im Mai, im Monat der Liebenden, wie es so schön hieß. Vielleicht ein Gag. Die Werbemanager hatten jedenfalls umgehend auf die weiße Pracht reagiert; sie hatten den Gag vorhergesehen, wie immer, und waren vorbereitet gewesen – es war normal. Gleichzeitig hatten die Hersteller reagiert und die Kaufhäuser der Stadt mit einer Flut von Weihnachtsprodukten überschwemmt.
Scheinbar allgewaltig hatte das Bastard-Weiß seine samtigen Schwingen über das Land ausgebreitet: Der Wald trug sein neues Kleid, präsentierte sich romantisch, im modernen Schick der verzaubernden Weiß-Schattierungen. Vharn zwang sich, nicht an die Stadt zu denken, nicht an die Betonkästenhäuser, nicht an die wenigen Bäume, die in großen Betonvasen einige
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