Metropolis brennt
bevorzugte Straßen säumten …
Er sah den Wald, wollte nichts als den Wald sehen. Die hohen, schmutzigbraunen Baumstämme waren überzuckert, glitzernd feine, bizarre Kristalle, Schneekrumen, zogen sich wie Parasiten die borkige Rinde empor, an der Wetterseite mehr, an den anderen Seiten weniger, hier und dort überhaupt nicht. Nackte Rinde, bloße Rinde, kränklich verfärbte Rinde. Schwer neigten sich die Äste, verklumpt waren Tannennadeln, versteckt ihr giftgelbes, trauriges Normal- und Sterbekleid, vergessen der beizende Säureregenniederschlag vor dem Einbruch des Winters.
Weiß, weiß, weiß …
Zauberweiß.
Ein Baldachin aus Zauberweiß, flüsterten ihm seine durch die beiden Pillen vergifteten Sinne zu, Zauberweiß rings um sie her und über ihnen: bizarre Formen, verkrüppelte Hände, die zueinander hintasteten, sich jedoch niemals – niemals – erreichen würden. Arme, Beine, Gesichter, Haare, Nerven, die sich verästelten. Klumpiges Weiß, frostige Kälte, eine Mischung aus verschneitem Wunderwerk und bloßliegenden, faulen Körperstellen. Wie die Freaks.
Der Boden tief verschneit. Der Boden nackt und erbärmlich.
Unregelmäßig gewellt die Decke hier, verschorft wie ein eiternder Ausschlag dort. Der kleine Wassertümpel in einer kleinen Mulde im Wald zugefroren, Spinnenmuster auf dem Eis, dort, wo es blank lag, wo der Schnee von den eisigen, jähen Böen der Winterwinde hochgewirbelt, durchgepeitscht, davongefegt worden war.
Kälte, Kälte.
Vor dem Mund wattiges, gespenstisches Weiß. Atemfahnen. Die Kälte biß in die Haut, sickerte in sie ein, wie die Gefühle des Mädchens in seinen Schädel einsickerten, zirkulierte in seinem Körper.
Grashalme durchstachen die Schneedecke. Schräg durch den Äste/Zweige/Schnee-Baldachin einfallende Sonnenstrahlen zauberten neue Farbschatten: Grellsilber, Dumpfbraun, Hellgrün, Weißbraun, Zartschokolade. Minzfarben und schwarze und zartgraue Schatten.
Und Stille.
Vharn haßte die Pillen, die für diese grausamen Eindrücke/Bilder sorgten. Er haßte sie, haßte sie …
Wieder blitzte die Erinnerung an sein erstes Treffen mit Mirja auf. Sie kauerte vor ihm, richtete den Prograv. Er starrte auf sie hinunter, unfähig, sich zu bewegen. Die Schmerzen waren; wie grelle Feuerspiralen in seinem Körper.
„Warum tust du das?“ Atemholen. Schmerzen. Dann: „Warum bist du bei den Streeters? Du machst dich unbeliebt.“
Sie schaute auf, warf ihre langen, samtigen Haarsträhnen in einer energischen Geste zurück. „Man macht sich auch unbeliebt, wenn man an Demonstrationen teilnimmt. Ich nehme trotzdem daran teil.
Es ist ein Grundrecht. Noch.“ Sie lächelte ihn an. „Soll ich etwa vor der Zukunft Angst haben? Wenn wir – wir alle – nur brav die Hände in den Schoß legen und geil danach bestrebt sind, uns nicht unbeliebt zu machen, dann werden wir keine Zukunft mehr haben.“ Ihr Lächeln verbreitete sich. „Und an ein beschauliches Rentnerdasein will ich heute sowieso noch gar nicht denken.“
Damals hatte er sie nicht verstanden. War das eine Antwort auf seine Frage? Er mußte darüber nachdenken. Und er mußte Mirja wiedersehen.
Jetzt, in der Stille des toten Waldes, glaubte er, sie zu verstehen.
Er lauschte in der Stille, lauschte so intensiv, daß er sich verkrampfte, daß sich seine Hände hart um die Regler klammerten, sich daran festkrallten, daß sein Atem unregelmäßig ging, daß er den silberhellen Strom ihrer Gefühle kaum mehr wahrnehmen konnte.
Nichts.
Ihr Atem: gleichmäßig, beruhigend, weil er ihm zeigte, daß er nicht allein war, daß sie bei ihm war und daß sie beide nicht in den Slums waren. Die Geräusche ihrer Schritte –
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