Metropolis brennt
bleichen Gesicht, hinter den dunklen, brennenden Augen und dem zynisch schmalen Strich des Mundes. Kalt und gekrümmt und starr wie diese Decke fühlte er sich, und so hing er auch in dem Silbergespinst, an das sie ihn angeschlossen hatten – ein nackter, verkrüppelter, ausgemergelter Körper, dürr, verdreht, verknotet, bucklig, ein verseuchtes Stück Fleisch, das momentan nur hören und fühlen konnte.
Vor allem fühlen.
Gedankendiebe
Als er wieder denken konnte, als Teile des silbrigen Gespinstes zu summendem, warmem Leben erwachten, dachte Vharn nur daran zu überleben, diesem eiskalten Peiniger zu trotzen, er wollte leben, leben …
Und er dachte an Mirja. Ob sie es jetzt bereute, ihn begleitet zu haben? Ob sie …
Es fiel ihm schwer, folgerichtig zu denken. Seine Gedanken kamen bruchstückhaft, wie Teile eines zusammengesetzten und dann wieder zerbrochenen Puzzles.
Erinnerungen mischten sich darin, Erinnerungen an früher, Erinnerungen an den Wald …
Der Wald …
Vharn wußte, das würde die nachhaltigste Erinnerung bleiben. Für immer. Der Frevel hatte sich gelohnt … Wenn nur Mirja noch lebte, wenn sie … Fiebrige Schauer durchrieselten ihn, die Gedanken-Erinnerungen begannen zu brodeln, sich ruckartig zu heben und zu senken, zu kommen und zu gehen, zu entschwinden, wie federleichte Schmetterlinge.
Und dann ging alles in einem Inferno unter, selbst die Anwesenheit des Arztes, der seine Befehle ausführte, wurde unwichtig, wurde ausgeschaltet, bedeutungslos.
Freak! Du bist ein Freak! Ein modriges, poröses Etwas … Keine Lebensberechtigung. Endlösung. Ein Problem, das sich von selbst löst …
Cad-Freak. Cadmium. Gefährliches Metall, wie auch Blei und Quecksilber. Er erinnerte sich. An damals, an die erste Volkszusammenkunft in den Slums, der er beiwohnen durfte. An den Vortrag der Streeter-Ärztin. Cadmium. Erste Katastrophenmeldungen: Japan, Fuchu, Bezirk Toyama, 1947, über angeblich rheumatische Erkrankungen mit grauenhaften Schmerzen in der Lendengegend. Bei den Erkrankten löst sich das Calcium aus den Knochen, sagt die Ärztin. Dadurch verformt sich das Skelett, die Erkrankten schrumpfen um bis zu dreißig Zentimeter. Leichte und leichteste Körpererschütterungen führen zu Rippen- und Knochenbrüchen. Das Gesicht der Ärztin ist ernst/bleich. Sie spricht leise. Eindringlich. Sie hat schon viele Cadmium-Kranke gesehen und betreut. Vharn prägt sich dieses Gesicht ein. Er hört zu. Diese Krankheit … Viele Erkrankte sterben qualvoll durch Nierenversagen oder Infektionskrankheiten, weil ihre körpereigenen Abwehrkräfte versagen. Merke es dir gut, Cad-Freak! Erinnere dich jetzt! Jetzt! Zu den Schmerzen kommt die psychische Belastung durch ununterbrochen andauernde Schmerzen. Ein lebender Leichnam …
Cadmium. Fakten. Hör zu, Freak, hör zu, was die Ärztin sagt. Cadmium ist in der Nahrungskette, und es bleibt in der Nahrungskette, Jahre, Jahrzehnte, bereits winzige Mengen sammeln sich im Laufe der Jahre zu einem gefährlichen Ausmaß im Körper, bis die Krankheit nach zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren schließlich ausbricht, bis man erfährt, daß man zu den Freaks gehört … Du brauchst Tag für Tag nur Mikrogramm-Dosen. Tag für Tag hält deine Niere einen Teil des Giftes zurück, bis sie ungefähr 40 Mikrogramm enthält. Dann beginnt das Gift, die Niere lahmzulegen. Die Niere kann der Vergiftung des Organismus nicht mehr Herr werden. Cadmium ist überall. War schon vor Jahren überall. Ein allgegenwärtiges Gift. Enthalten in: Farbstoffen, Lacken, Kunststoffen, Batterien, Keramik, Rostschutzmitteln, Lötmitteln, Zahnplomben, Plastiktüten. Die Ärztin faltet die Hände. Ihre Stimme ist monoton. Kann keinen Trost geben. Nicht bei dieser Erkrankung. Sie hat zu viele Cadmium-Kranke, zu viele Cadmium-Tote gesehen. Eisenerze, Kohle und Erdöl enthalten das toxische Schwermetall ebenfalls; im Stahlwerk, im privaten Haushalt, im Kraftwerk, in der Müllverbrennungsanlage wird ununterbrochen Cadmium in die Luft geblasen – das daraufhin zu einem Großteil wieder zu Boden regnet. Das Gift wird eingeatmet, versickert im Boden, sammelt sich in Weiden und Wiesen. Über Weidevieh und Grundwasser sowie das ebenfalls verseuchte Flußwasser gelangt das Gift über die Nahrungskette in den Menschen. Es ist überall. Ein gesetzlich vorgeschriebener Immissionswert existiert bis heute nicht, sagt die Ärztin, jedoch soll eine entsprechende Vorlage in Vorbereitung sein. In Vorbereitung.
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