Meuterei auf der Elsinore
Schlingerbord versehen worden, denn in der Totenstille schlingerte die Elsinore hin und her. Fräulein West hatte sich schon längst zurückgezogen. »Jetzt werden wir sie erst in einigen Tagen wiedersehen«, meinte Kapitän West. »Ihrer Mutter ging es ebenso; sie hatte sonst auch Seefüße, wurde aber immer bei Beginn der Fahrt krank.«
»Man muß eben erst zurechtgeschüttelt werden.« Pike setzte mich in Erstaunen durch die längste Bemerkung, die er bisher bei Tisch gemacht hatte: »Alle müssen wir zurechtgeschüttelt werden, wenn wir den festen Boden hinter uns lassen. Wir müssen die schönen Tage an Land vergessen, und dann beginnen die Wachen – immer wieder Wachen, vier Stunden an Deck, vier Stunden Ruhe. Und es wird einem anfangs verdammt sauer, bis man sich an die Änderung gewöhnt hat. Haben Sie übrigens zufällig diesen Winter Caruso in New York gehört, Herr Pathurst?«
Ich nickte, immer noch ganz verblüfft über seine ungewohnte Beredsamkeit bei Tisch.
»Donnerwetter ja, wenn man denkt, daß man den hören kann, und dann soll man darauf verzichten und wieder Wache schieben. Pfui Deubel!«
»Lieben Sie die See denn nicht?« fragte ich.
Er seufzte.
»Ich weiß nicht recht. Aber selbstverständlich ist die See das einzige, was ich kenne.«
»Mit Ausnahme der Musik«, sagte ich.
»Ja, das ist wohl richtig, aber die See hat mich um die meiste Musik gebracht.«
»Aber die Schumann-Heink haben Sie doch sicher gehört?«
»Herrlich, herrlich!« murmelte er begeistert. »Ich habe ein halbes Dutzend Platten von ihr. Bei der zweiten Plattfußwache bin ich frei heute. Wenn Kapitän West also nichts dagegen hat und Sie hören wollen – es ist ein guter Apparat.«
Als der Steward abgedeckt hatte, brachte dieses bemooste Überbleibsel aus den alten männertötenden und männerhetzenden Tagen, dieser Vagabund der Meere, aus seiner Kammer eine einfach herrliche Sammlung von Schallplatten. Er legte sie auf den Tisch, wo er auch seinen Apparat aufstellte. Kapitän West und ich machten es uns in den großen Ledersesseln bequem, während Pike das Grammophon bediente. Sein Gesicht wurde von den Hängelampen beleuchtet, so daß ich selbst den leisesten Ausdruck, der darüberglitt, beobachten konnte. Ich erwartete irgendeinen volkstümlichen Schlager zu hören – aber nein. Seine Platten gehörten ohne Ausnahme zu den allerbesten, und die liebevolle Sorgfalt, mit der er sie behandelte, war einfach eine Offenbarung für mich. Eine Zeitlang konnte ich meinen Blick nicht von den großen, brutalen Händen lassen, die jetzt plötzlich in allen Bewegungen eine so liebevolle Sorgfalt verrieten. Jede Berührung der Platten war eine Liebkosung, und während die Platte lief, hockte er träumerisch am Apparat.
Kapitän West saß unterdessen in seinem Sessel und rauchte seine Zigarre. Sein Gesicht war ganz ausdruckslos – er schien gänzlich unberührt von der Musik zu sein. Ich glaube überhaupt kaum, daß er sie hörte. Er schien mir übernatürlich ruhig und übernatürlich fern. Und während ich ihn betrachtete, dachte ich darüber nach, worin seine Arbeit hier an Bord wohl eigentlich bestand. Ich hatte ihn bis jetzt noch nichts tun sehen. Das Einnehmen und Verstauen der Ladung hatte Pike überwacht. Erst als das Schiff in See stechen sollte, war Kapitän West an Bord gekommen. Ich hatte ihn noch keine Befehle erteilen hören. Mir kam es vor, als ob Pike und Mellaire die ganze Arbeit täten. Kapitän West rauchte Zigarren und kümmerte sich nicht um die Mannschaft der Elsinore.
Als Pike den ›Halleluja-Chor‹ und ›Er speist die Seinen…‹ gespielt hatte, bemerkte er zu mir – fast wie eine Entschuldigung –, er liebe religiöse Musik besonders, und vielleicht stamme diese Vorliebe daher, daß er als Kind Chorknabe gewesen sei.
»Dann versetzte ich aber dem Herrn Pfarrer mit dem Baseballschläger eins über den Kopf«, schloß er seinen Bericht mit einem harten Lachen.
Und wieder versank er in glückliche Träume, während er ›König des Himmels‹ spielte. Als halb acht Glasen geschlagen wurde, brachte er Apparat und Platten wieder in seine Kammer, nachdem er sie sorgfältig eingepackt hatte.
Diese Nacht schlief ich wieder sehr schlecht. Da ich in der vorigen Nacht zuwenig Schlaf bekommen hatte, klappte ich früh mein Buch zu und löschte das Licht. Aber kaum war ich eingeschlafen, als mein Hitzeausschlag mich so furchtbar plagte, daß ich wieder aufwachte. Den ganzen Tag hatte ich nichts gespürt,
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