Mias verlorene Liebe
Vater liebt meine Mutter sicher sehr, und ganz bestimmt mag er mich auch, aber niemand von uns könnte – oder wollte – den Platz in seinem Herzen einnehmen, der für seine Tochter reserviert ist.“
„Du übertreibst, Ethan. Ich ähnele meiner Mutter so sehr, dass ich für ihn vermutlich einen ständigen Vorwurf und eine Erinnerung an seine gescheiterte Ehe bedeute.“
„Das glaubst du ja wohl selbst nicht!“
„Warum nicht?“ Mia begann, unruhig hin und her zu gehen.
„Es wäre doch lächerlich, ein Kind für das Scheitern einer Ehe verantwortlich zu machen.“
„Welche Perlen der Weisheit aus deinem Munde!“ Mia sah ihn spöttisch an.
„Um genau zu sein: aus dem Munde meiner Mutter. Davon abgesehen, glaube ich, dass dein Vater in diesem Punkt die Meinung meiner Mutter teilt.“
„Wie meinst du das?“ Abrupt blieb Mia vor ihm stehen.
Ethan versuchte ein Lächeln. „Vielleicht hätten wir damals nicht die ganze Zeit im Bett verbringen, sondern auch ab und zu miteinander reden sollen.“
„Ethan!“
„Mein Vater war Alkoholiker und neigte zu plötzlichen Wutausbrüchen.“ Mit einem Achselzucken quittierte er Mias entsetzte Miene. „Er hat das Leben meiner Mutter – und meines – zur Hölle gemacht.“
„Hat er … gab es körperliche Übergriffe?“
Ethan schüttelte den Kopf. „Er beschränkte sich auf emotionale und psychische Grausamkeit. Wahrscheinlich wegen seiner Komplexe, weil sie als Schuldirektorin die bessere berufliche Position hatte. Er war schließlich nur Autoverkäufer.“
„Woran ist er denn gestorben?“
„An einem Schlaganfall während eines Wutausbruchs in betrunkenem Zustand. Meine Mutter hatte gerade telefonisch Bescheid gegeben, sie würde etwas später von der Arbeit nach Hause kommen.“
„Hast du das miterlebt?“
„Unglücklicherweise ja.“
Das alles kam völlig überraschend für Mia. „Es tut mir so leid.“
„Wieso? Du kannst doch nichts dafür.“
„Nein, natürlich nicht … aber ich habe dich auch nie nach deiner Kindheit gefragt.“
„Ich hätte ja von mir aus darüber reden können … aber ich wollte nicht.“
Wenn Mia ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass Ethan und sie sich in den drei Monaten, die sie zusammen verbrachten, für ganz andere Dinge als Gespräche interessiert hatten.
Was nun Grace Black betraf …
Sie war eine auffallende Erscheinung – hochgewachsen und außergewöhnlich attraktiv mit ihren kastanienbraunen Haaren und den leuchtenden blauen Augen. Als Schuldirektorin umgab sie die Aura unnahbarer, kühler Eleganz. Nie hätte Mia ihr zugetraut, es zwölf Jahre mit einem Mann auszuhalten, wie Ethan ihn eben beschreiben hatte.
„Ich ähnele ihm äußerlich wie ein Ei dem anderen“, fuhr Ethan mit monotoner Stimme fort. „Statur, Haare, Augenfarbe.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Glücklicherweise hinderte das meine Mutter nicht daran, mich so zu nehmen und zu lieben, wie ich bin … sie hat nie meinen Vater in mir gesehen.“
Natürlich nicht, dachte Mia, schließlich ähnelte Ethan seinem Vater charakterlich überhaupt nicht. Ethan hatte es nicht nötig, andere aufgrund eines Minderwertigkeitsgefühls zu unterdrücken. Mehr als ein, zwei Gläser Wein hatte sie ihn nie trinken sehen, wenn sie sich in Gesellschaft bewegten. Und nie, niemals verlor er die Kontrolle, wenn er wütend war. Ganz im Gegenteil: Er wirkte dann nach außen hin eher ruhiger.
Auch sie selbst ähnelte ihrer Mutter nur im Aussehen. Diese verbrachte ihre Tage in Schönheitssalons, teuren Boutiquen und auf dem Tennisplatz, die Nächte auf Partys.
Dennoch hätte Mia den Lebensstil ihrer Mutter nie kritisiert. Dank einer Armada an Bediensteten funktionierte ihr Haushalt reibungslos wie ein Uhrwerk. Außerdem verbrachte Mia ohnehin den ganzen Tag in der Schule und William den seinen im Büro – oft bis spät in die Nacht. Da blieb Kay gar nichts anderes übrig, als ein eigenes soziales Umfeld für sich zu schaffen …
Dieses Leben kam nach ihrem Unfall schlagartig zum Stillstand. Kay schwankte zwischen tiefer Depression und unvorhersehbaren Wutausbrüchen, weshalb es William für besser hielt, Mia diesen Lebensumständen nicht länger auszusetzen, und sie in einem Internat unterbrachte. Dem Internat, an dem Grace Black Direktorin war …
Plötzlich fiel es Mia schwer, Ethan in die Augen zu sehen. „Ich mochte deine Mutter wirklich gern während meiner Zeit in Southlands … und natürlich würde ich ihr nie das
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