Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
Dort wurden sie komplett durchgecheckt. Sie wurden geröntgt und auf Erb- und Infektionskrankheiten untersucht. Außerdem wurde ein Blutgruppenverträglichkeitstest durchgeführt. Die Jungfernschaft wurde nicht überprüft, das hatte man schon vor meiner Zeit abgeschafft. Wie auch immer, Birgül war kerngesund und der Bräutigam auch. Einer Hochzeit stand also nichts mehr im Wege. Problematisch war nur Birgüls Alter. Sie war ja erst sechzehn. Also haben die beiden zu Hause geheiratet. Man lud den Hoca ein, und der hat sie dann getraut. Ein paar Tage nach der Feier sind die beiden zum Richter gegangen und haben ihre Heirat offiziell bekannt gegeben. Brautgeld wurde übrigens keines bezahlt. Ich wollte meine Tochter doch nicht verkaufen. Birgül bekam ein bisschen Goldschmuck geschenkt. Außerdem vereinbarten sie und ihr Mann, dass Birgül im Falle einer Scheidung mit vierzig Gramm Gold abgefunden werde.
Die Hochzeitsfeier selbst war eine einzige Katastrophe. Vielleicht lag es an der knappen Zeit oder an mangelndem Geld, ich weiß es nicht. Jedenfalls war alles ziemlich improvisiert. Die Hennanacht reduzierte sich auf etwa eine Stunde. Wir Frauen befanden uns schon in einem Raum, als Birgül hereinkam. Sie setzte sich auf einen für sie vorgesehenen Stuhl, öffnete die Hände, und dann bestrich man sie mit der roten Hennamasse. Danach wurde noch ein bisschen getanzt, und das war’s. Genauso provisorisch war die Feier am nächsten Tag. Es wurde draußen gefeiert, weil das in dieser Kleinstadt wohl so Brauch ist. Ich sehe sie noch vor mir, meine kleine Birgül, wie sie mit ihren weißen Stöckelschuhen und dem weißen langen Kleid mit U˘gur an ihrerSeite den Hügel hinunterlief. Die beiden versuchten zu tanzen, aber das war ein bisschen schwierig zwischen all den Steinen und Erdbrocken. Die Gäste bildeten einen Kreis und klatschten in die Hände. Es waren viele Menschen gekommen, aber die meisten von ihnen kamen direkt von der Arbeit, manche auch direkt aus dem Stall. Das hat meiner Tochter nicht gefallen, das konnte man deutlich sehen.
Die Sache mit dem Leintuch musste erst einmal ausfallen, weil Birgül ihre Periode hatte. Ich glaube nicht, dass sie darüber unglücklich war. Aber vier Tage später war es dann so weit. Als sie am nächsten Morgen zum Frühstücken kam, sah ich sofort, dass sie keine berauschende Nacht hinter sich hatte. Und natürlich wollte die Schwiegermutter das Leintuch sehen. Und, Gott sei Dank, war da ein kleiner Blutfleck. Meine Tochter war als Jungfrau in die Ehe gegangen. Ich war erleichtert. Birgül fand das Ganze wohl ziemlich peinlich. Erst später hat sie mir erzählt, wie unbeholfen U˘gur mit ihr geschlafen habe. Dass er sie nicht zärtlich in den Arm genommen und geküsst habe, sondern schnell zur Sache gekommen sei. Es habe fürchterlich wehgetan und wäre auch ganz schnell vorbei gewesen. Ich nahm sie in den Arm und tröstete sie: »Ja, so war es bei deinem Vater auch. So sind sie eben, die Männer!« ›Nur Zoran war eine Ausnahme‹, dachte ich bei mir, aber gesagt habe ich es nicht.
Die letzten Tage unseres Aufenthalts vergingen sehr schnell, und ich hatte den Eindruck, dass Birgül inzwischen ein bisschen glücklich war. Sie lachte und schäkerte viel mit ihrem Mann. Von Paul redete sie nicht mehr. Wann immer U˘gur Zeit hatte, hat er sie abgeholt und mit ihr etwas unternommen. Sie zu beobachten bestärkte mich, und ich war überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Dann kam der Abschied. Auf dem Weg zum Flughafen musste Birgül fürchterlich weinen. Auch in der Maschine weinte sie noch ein bisschen, aber dank ihrer Flugangst hatte sie bald andere Sorgen. Zweieinhalb Stunden später sind wir sicher in München gelandet.
Zu Hause haben wir niemandem von Birgüls Hochzeit erzählt. Warum auch? Mustafa hatte mich lange nicht mehr angerufen, und auch für mich gab es keinen Grund, ihn zu informieren. Meine großen Söhne meldeten sich nicht bei uns. Wen also kümmerte es, dass meine Tochter verheiratet war? Außerdem würde U˘gur sowieso nicht sofort kommen können, weil erst die Formalitäten mit den deutschen Behörden erledigt werden mussten. Birgül ist an ihren Ausbildungsplatz zurückgekehrt und hat auch dort mit niemandem über die Neuigkeiten gesprochen. Aber ich habe es dann doch eines Tages preisgegeben. Und zwar jener Kollegin, die mir bei der Trennung von Mustafa sehr geholfen hatte. Als sie mich fragte, wie es in der Türkei gewesen sei, konnte ich
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