Michelle Reid
gedacht. Aber den Mann in Fleisch und Blut vor sich zu sehen, war doch etwas ganz anderes. Obwohl er nur einen schlichten Geschäftsanzug trug, durchströmte sie die Erinnerung an die gestrige Intimität, und eine prickelnde Wärme überkam sie.
Unwillkürlich folgte sie seinem Beispiel und ließ ihren Blick über seinen gesamten Körper wandern. Angefangen bei seinen Beinen, die von einer grauen Hose verhüllt waren, über die Brust und das hellblaue Hemd mit passender dunkler Krawatte. Als sie schließlich sein frisch rasiertes Gesicht mit den atemberaubenden Zügen betrachtete, waren ihre Wangen vor Verlegenheit gerötet.
„Guten Morgen“, erwiderte sie kühl und auf Englisch.
Ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Hast du gut geschlafen?“
„Ja, vielen Dank.“
Den Blick abwendend, ballte sie die Hände in den Taschen des Morgenmantels zu Fäusten. Sie zwang sich, auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen. Leo hingegen blieb stehen.
„Bernice war sich nicht sicher, was du zum Frühstück magst. Sie hat eine kleine Auswahl zusammengestellt.“ Er deutete auf ein kleineres Tischchen am Rand der Terrasse, auf dem etliche Teller und Schüsseln standen. „Sag mir, was du möchtest. Ich hole es dir.“
Natasha hob den Kopf, betrachtete den Tisch und schaute dann schnell wieder weg. „Danke. Mir reicht ein Toast.“
„Saft?“
Ein kurzes Zögern, dann: „Bitte.“
Leo stand auf, schlenderte zu dem Tischchen hinüber und schenkte den frischen Saft in ein Glas. Eine vertrautere Szene konnte man sich kaum vorstellen, dachte Natasha. Doch an der Art und Weise, wie ihre Blicke scheinbar willenlos seinen Bewegungen folgen mussten, war absolut nichts Ruhiges oder Beschauliches.
Rasch wandte sie den Kopf ab, als er zurückkehrte, und gab vor, sich sehr vor das im Sonnenlicht glitzernde Athen zu interessieren. Leo stellte das Glas vor ihr auf den Tisch.
Dann ließ er eine Scheibe Toast auf ihren Teller gleiten, ging zu seinem Platz zurück und griff wieder nach der Zeitung.
Natasha zog eine Hand aus der Tasche und nippte am Orangensaft. Gerade wollte sie nach dem Toast greifen, da entdeckte sie ihr Handy mitten auf dem Tisch.
„Bernice hat es in der Tasche meines Jacketts gefunden. Ich hatte ganz vergessen, dass ich es eingesteckt hatte.“ Auch wenn er offensichtlich den Eindruck erwecken wollte, in seine Zeitung vertieft zu sein, war er es offensichtlich nicht.
Natasha nickte nur. Sie nahm das Telefon, fuhr einige Sekunden mit den Fingern über die glatte Oberfläche und klappte das Gerät dann auf.
Sofort füllte sich das Display mit Nachrichten, die Rico und Cindy hinterlassen hatten. In dem Bewusstsein, dass Leo sie beobachtete, wählte sie eine Nachricht nach der nächsten aus und löschte sie, ohne sie gelesen zu haben. Dabei verschaffte es ihr auf eine merkwürdig distanzierte Art Vergnügen, eine nach der anderen verschwinden zu sehen. Schließlich klappte sie das Handy wieder zu, legte es neben ihren Teller und widmete sich endlich der Toastscheibe.
„Ich muss ein paar Kleider einkaufen“, sagte sie.
Leo erwiderte nichts. Doch Natasha spürte sehr deutlich, wie gerne er ihre Löschaktion kommentiert hätte. Hatte er eigentlich die Nachrichten gelesen? Hatte er erwartet, Instruktionen von Rico vorzufinden, wie sie am besten aus seiner Villa entkam und sich mit ihrem Exverlobten sechs Wochen lang versteckte, bis sie an das gestohlene Geld herankamen?
Doch Leo zog nur wortlos eine Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts. „Ich richte bei meiner Bank ein Konto für dich ein“, meinte er. „Und bis dahin …“
Ein Bündel Geldscheine landete neben ihrem Teller.
„Kauf dir, was du willst. Rasmus wird dich nach Athen fahren.“
„Ich brauche keinen Fahrer“, flüsterte sie gepresst. „Ich finde den Weg schon alleine.“
„Rasmus ist nicht nur dazu da, um deinen Chauffeur zu spielen. Von nun an wird er dich, wo auch immer du hingehst, begeleiten.“
„Weshalb? Um mich zu bewachen? Ich werde nicht fliehen“, erklärte sie steif. „Ich will nicht ins Gefängnis, wenn ich geschnappt werde.“
„Dann sieh in Rasmus deinen Beschützer“, schlug Leo vor.
„Und den brauche ich, weil …?“
Leo zog eine Augenbraue hoch. „Weil wir in gefährlichen Zeiten leben?“
„Du vielleicht.“
„Du bist jetzt ein Teil meiner Welt. Und das bedeutet, du musst das Schlechte wie das Gute daran hinnehmen.“
Was um alles in der Welt konnte denn gut daran sein, seine
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