Mick Jagger: Rebell und Rockstar
war eine Showbusiness-Stadt, weit entfernt vom tiefen Süden. Doch ein Haufen weißer Kids, die versuchten, »schwarze Musik« zu spielen, war der alten Showbiz-Garde nicht gerade einfach zu verkaufen. Die Stones hatten das Pech, genau in jener Folge von Hollywood Palace aufzutreten – eine einstündige Unterhaltungssendung, die verschiedene Moderatoren im Wechsel präsentierten –, die Dean Martin moderierte. Wie seinem Freund Frank Sinatra waren auch Dean Martin die British-Invasion-Bands mit ihrem rüpelhaften Benehmen und den langen Haaren anfangs höchst suspekt. Anstatt sie als Botschafter des amerikanischen Entertainments willkommen zu heißen, macht sich der alternde und sich sichtlich herausgefordert fühlende Superstar in übler Rat-Pack-Manier (und manche sagen auch angetrunken) über sie lustig. »Ihre Haare sind gar nicht lang«, witzelte er, bevor er sie vorstellte. »Jetzt kommt was für die jungen Leute. Fünf Sängerknaben aus England, die eine Menge Albiums, äh, Alben verkauft haben.« Aus dem Publikum ist ein nervöses Lachen zu hören. Die Stones müssen hinter der Bühne ebenfalls lachen: über Dean Martins pomadisiertes Haar und seinen Smoking. In ihren Augen wirkte das Ganze ungemein surreal. »Sie nennen sich The Rolling Stones. Mich hat man auch schon gerollt, als ich stoned war. Hier sind sie nun.« Mick gibt mächtig Gas, als er »I Just Wanna Make Love to You« singt, während sich Brian an der Mundharmonika verausgabt und Keith mit mürrischem Blick umherstolziert und ziemlich wild auf seine Gitarre eindrischt.
»Die Rolling Stones! Sind sie nicht großartig?«, sagt Dean Martin am Ende des Songs, während er applaudiert. Gleichzeitig verdreht er die Augen und zeigt dem Publikum deutlich, wie genervt er ist. Die letzten sechzig Sekunden waren offenbar ganz und gar nicht nach seinem Geschmack. Die Stones setzen zu einer Verbeugung an, entscheiden sich dann aber dagegen. »Fick dich, Dean Martin«, scheinen ihre Blicke zu sagen. »Ich erkläre Ihnen jetzt mal, was es mit den Bands von heute auf sich hat«, fährt Dean Martin fort. »Sie haben lange Haare, meinen Sie? Das ist nicht wahr. Es ist eine optische Täuschung. Das liegt daran, dass ihre Stirn so niedrig ist und die Augenbrauen so weit oben sitzen.«
Für die Stones kam es kurz darauf sogar noch schlimmer. Die Shows in San Antonio, Detroit, Minneapolis, Omaha und West Virgina waren gerade mal zur Hälfte ausverkauft und der Band drohten wegen ihrer langen Haare und ihrer lauten, triebhaften »Negermusik« unentwegt Scherereien.
Erst während der zweitätigen Aufnahmesession bei Chess in Chicago stellte sich bei der Band wieder das Gefühl ein, dass ihre Träume gerade wahr wurden. Doch trotz aller Vorfreude kam es auch hier zu ein paar unangenehmen Begebenheiten. Obschon Chess Records den beiden jüdischen Brüdern Leonard und Philip Chess gehörte, zählten die Stones mit zu den ersten weißen Musikern, die dort Aufnahmen machten. »Wir arbeiteten eigentlich nicht mit Leuten zusammen, die bei anderen Plattenfirmen unter Vertrag standen«, erinnert sich Marshall Chess. »Das war eine absolute Ausnahme. Man musste bei Chess sein, um da aufnehmen zu können. Wir hatten unsere eigenen Tontechniker und wir nahmen nur unsere eigenen Leute auf.« Den Stones wurde dennoch Einlass gewährt in das Studio, in dem schon ihre großen Vorbilder Songs eingespielt hatten, und sie nahmen dort Tracks auf, die sie für authentische Chicagoer R’n’B-Nummern hielten. Zu den dort aufgenommen Songs gehört neben dem flotten Instrumentalstück »2120 South Michigan Avenue«, der Late-Night-Boogie-Woogie-Piano-Blues »Stewed and Keef« (eingespielt von Ian Stewart und Keith Richards), ein halllastiges »Reelin’ and Rockin’«, eine Country-Blues-Version von Muddy Waters’ »I Can’t Be Satisfied« und das wenig später als Hit einschlagende »Time Is on My Side«, eine Coverversion des Songs von Norman Meade, die auch auf einige Elemente der kurz zuvor von Irma Thomas gesungenen Version zurückgreift. Die ganze Zeit über verfolgten Chess-Angestellte, Musiker und andere Leuten interessiert, was die Jungs so trieben. »Sie waren Weiße, sie waren jung und sie sahen seltsam aus«, so Marshall Chess. »Sie tranken Whiskey aus der Flasche. So etwas hatte es zuvor im Studio noch nicht gegeben. Bluesmusiker tranken immer aus dem Glas.« Während ihrer Stippvisite bei Chess lernten die Stones Buddy Guy, Willie Dixon und Chuck Berry kennen. Von
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