Mick Jagger: Rebell und Rockstar
ersten Top-Ten-Hit. Und so taten Mick und Keith im Herbst desselben Jahres mit einem von Oldham arrangierten Dreijahresvertrag mit Decca Records in der Tasche und ihrer ersten erfolgreichen Single in den Geschäften einen weiteren Schritt in eine glorreiche Zukunft. Außerdem zogen sie von dem Schmuddelapartment am Edith Grove in eine ansprechendere Unterkunft in West Hampstead, während sich Brian Jones bei der Familie seiner damaligen Freundin Linda Lawrence einquartierte. Und am 22. Oktober 1963, nach fast zwei Jahren ernsthaften Studiums, erklärte Mick seinen Dozenten und seinen Eltern, dass er sein Studium zugunsten der sich selten bietenden Gelegenheit, Musiker zu werden, an den Nagel hängen würde. Seine Professoren an der LSE boten ihm an, sich im kommenden Jahr erneut einzuschreiben, falls er dies wünschen sollte. Dies erleichterte Mick die Entscheidung sehr, denn ihm war klar, dass er auf jeden Fall zurückkehren würde, falls sein Rock’n’Roll-Experiment fehlschlagen sollte.
Joe und Eva Jagger reagierten weitaus weniger verständnisvoll auf die Entscheidung ihres Sohnes. »Es war sehr, sehr schwierig«, erklärte Mick Jahre später, »denn es war klar, dass meine Eltern nicht wollten, dass ich das tat. Mein Vater war wütend, extrem wütend.« Seine Eltern waren sehr besorgt und stritten mit ihm, doch die Zeiten, in denen Mick bequem zwischen den Stühlen der »Guvnors« und der »Ernies« sitzen konnte, waren zweifellos vorbei. Mick musste sich für eine Seite entscheiden und er setzte alles, was er hatte, auf sein eigenes Talent und das seiner Blueskumpels.
»Nehmen wir einmal an, es hätte nicht geklappt«, sagte Brian Jones später. »Wir hätten alles in unserer Macht stehende getan, das Beste aus unseren Fähigkeiten zu machen, und wir hätten später – wenn wir alle irgendeinem Bürojob nachgegangen wären, eine Familie und ein nettes Häuschen in der Vorstadt gehabt hätten – nichts bedauern müssen. Aber wenn wir es gar nicht erst versucht hätten, hätten wir uns womöglich bis ans Ende unserer Tage in den Arsch getreten, denn wir hätten nie gewusst, wie gut wir hätten sein können. Und uns war einfach klar, dass ein Leben, in dem man ständig reuevoll zurückblickt auf das, was hätte sein können, nichts für uns war.«
EIN
STEIN
DER
HOFFNUNG
KAPITEL 3
W ir sollten jetzt endlich Howlin’ Wolf auf die Bühne holen«, verlangt ein grinsender Brian Jones und macht den Weg frei. Wir sehen eine Folge der amerikanischen Musiksendung Shindig aus dem Jahr 1964. Ein paar Augenblicke später tritt Howlin’ Wolf ins Rampenlicht, der hochgewachsene Bluessänger mit der einzigartigen Reibeisenstimme. Der Vierundfünfzigjährige war nicht gerade einer der typischen Gäste dieser TV-Sendung für Teenager, doch die Rolling Stones, die ältere afroamerikanische Bluesmusiker wie Howlin’ Wolf und Muddy Waters einem breiten Publikum bekannt gemacht hatten, fungierten auch in diesem Umfeld wie Mäzene, die jede sich bietende Gelegenheit wahrnahmen, den jungen Leuten die Musiker vorzustellen, die sie zu ihrem eigenen Sound inspiriert hatten. Die Beweggründe dafür hatten weniger mit dem Vergnügen daran, gönnerhaft aufzutreten, zu tun, als mit der nach wie vor großen Leidenschaft für den Blues. Sie waren Fans, keine Aktivisten, doch bei ihrem ersten Besuch in den USA bekamen sie schnell mit, wie viele Ungerechtigkeiten und Demütigungen ihre Helden seit jeher erdulden mussten – und zwar nicht nur in musikalischer und professioneller Hinsicht. Wenn sie noch einer zusätzlichen Motivation bedurft hätten, so war diese Erfahrung gewiss ein weiterer starker Impuls, um die Sounds aus dem Süden und den Straßen von Chicago ihren Fans nahezubringen. Die Stones hatten darauf bestanden, dass Howlin’ Wolf in die Sendung kommen durfte, und bei seinem Auftritt saßen sie geradezu ehrfürchtig zu seinen Füßen, während er in die Kamera sang.
© CBS Photo Archive/Getty Images
Mit Ed Sullivan in New York, 1966.
Schon bevor sie zum ersten Mal nach Übersee kamen, hatten die Stones die wichtigsten afroamerikanischen Musiker, die sie beeinflusst hatten, kennengelernt und mit ihnen gespielt. So waren sie beispielsweise mit dem Chess-Records-Star Bo Diddley auf Tour gegangen; aus Respekt vor ihm hatten sie zu diesem Anlass sogar rund ein halbes Dutzend Diddley-Coverversionen von ihrer Setlist gestrichen. Die Band fuhr voll ab auf den typischen Diddley-Beat, der einer der Eckpfeiler ihres
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