Mick Jagger: Rebell und Rockstar
angesickt und halb verhungert war, erklärte mir, sie hätten diesen verfickten Song jetzt geschrieben und ich täte gut daran, ihn verfickt noch mal zu mögen«, so Oldham in seiner Biografie.
Und Oldham fand ihn gut. Auf der Stelle packte ihn das Arbeitsfieber: Er mietete ein Aufnahmestudio, benachrichtigte Faithfull und holte sich Verstärkung in Form von Lionel Bart, dem gefragtesten Songwriter der Tin Pan Alley und Komponist des Musicalhits Oliver! , der mit »I Don’t Know How to Tell You« eine weitere starke Komposition zu Faithfulls Debütsingle beisteuerte. Erst eine Woche war seit ihrem Kennenlernen auf der Party vergangen und der Masterplan war schon ausgearbeitet. Für die Aufnahmen trafen sich Marianne Faithfull, Andrew Oldham, Mick und Keith in den Olympic Studios, in denen die Stones bald selbst einige ihrer herausragendsten Alben aufnehmen würden. Der Sängerin fiel auf, dass Jagger und Richards im Regieraum etwas angespannt und sichtlich nervös waren. Sie wirkten auf sie an diesem Tag wie ausgewechselt. Ihr wurde eine Aufnahme des Songs vorgespielt, bei der Mick sang und ein Studiomusiker Akustikgitarre spielte. Die Nummer besaß eine Tiefe, mit der sie nicht gerechnet hatte. Tränen werden hier nicht »vergossen«, sie »gehen vorbei«. Sie werden zu einem Teil der Erinnerung. Während die Sonne langsam untergeht, beobachtet ein lyrisches Ich spielende Kinder aus einiger Entfernung. »Doin’ things I used to do, they think are new«, sang Mick auf dem Demo, und in der Interpretation dieser großartigen Zeile klang eine Aufrichtigkeit mit, die nichts mehr gemein hatte mit dem Image des rüpelhaften Bluessängers, sondern eher klang wie der sanfte Gesang eines Folkmusikers oder sogar einer Chansonnière.
Als die Session begann, änderte Oldham seinen Masterplan leicht ab. Die A-Seite wurde zur B-Seite, sodass »As Time Goes By« (den Oldham nun »As Tears Go By« nannte und dafür einen Credit als Koautor einheimste) nun der Song war, mit dem Marianne Faithfull ihr Debüt als Sängerin gab. Oldham war klar, dass es die bessere Nummer war, und er hoffte, mit diesem Schritt Micks und Keiths Selbstvertrauen zu stärken, damit sie ihm in Zukunft mehr davon lieferten. »Er hatte tatsächlich etwas von einer Françoise-Hardy-Nummer«, erinnert sich Faithfull. »Vielleicht hatte Mick so was in der Art mit mir assoziiert, als wir uns kennenlernten. Leicht existenzialistisch mit einem Hauch von San Remo Song Festival. Die Art von Euro-Pop, die aus französischen Jukeboxes dröhnt. Vielleicht war es auch das, was Andrew in mir sah, als er mich auf der Party traf, und dann hat er Mick beauftragt, so was für mich zu schreiben; Andrew stand schon immer auf solche Sachen.« Oldham gab Marianne Faithfull den Text, den Mick auf ein Blatt Papier gekritzelt hatte, und den sie einstudierte, ohne ausreichend Zeit zu haben, sich richtig in die Atmosphäre des Songs hineinzuversetzen. Ebenso wie Mick folgte sie nur ihrem Instinkt, irgendeiner mysteriösen inneren Stimme. Damals spielte man Songs noch sehr schnell ein, man experimentierte nicht lange damit herum. Faithfulls Version wirkt infolgedessen ein bisschen steif, mit ihrer nervösen Stimme artikuliert sie die einzelnen Zeilen etwas zu exakt (»Rain fowl-ing on the ground«).
© Rex USA
David Bailey porträtierte Mick Jagger als Romantiker im Pelz, 1965.
Mick und Keith beobachteten sie vom Regieraum aus, während sie sang. Der Song löste irgendetwas aus – in Mick und in Marianne Faithfull. Die Session war schnell vorüber, für den Song wurden nur zwei, drei Takes gebraucht. Sie verließen das Studio gemeinsam und fuhren Faithfull zum Bahnhof zurück. Das im Juni 64 beim Stones-Label Decca veröffentlichte »As Tears Go By« wurde ein Hit, genau wie Oldham es vorhergesagt hatte. Es war Faithfulls erster Schritt auf dem Weg, eine große, mythenumrankte Popikone zu werden, außerdem begründete dieser Song ihre Verbindung zu den Stones. Auch wenn von einer Liebesbeziehung zu Mick damals noch gar keine Rede sein konnte, so markiert »As Tears Go By« doch den Beginn einer Romanze, die sie in der kollektiven Erinnerung auf ewig miteinander verbindet.
Obschon Mick den Song öffentlich als »Mädchenkram« abtat, wusste er, dass ihm diese Ballade neue Türen öffnete, dass sie ihm erlaubte, von nun an auch mit diesem Genre zu experimentieren. Schon wenig später nahmen die Stones auch langsame Titel in ihr Repertoire auf, etwa Arthur Alexanders
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