Mick Jagger: Rebell und Rockstar
Telefonnummern ausgetauscht, aber weiter keine verbindlichen Verabredungen getroffen.
Nicht nur Marianne, auch Mick war schon vergeben – wobei sich die junge Frau für Jaggers Beziehungsstatus seinerzeit wohl kaum interessiert haben dürfte. Seit mittlerweile zwei Jahren war er mit Chrissie Shrimpton liiert, die seinerzeit ein vorzüglicher Fang gewesen war, als die Stones noch kurz vor dem Durchbruch standen. Manch einer vermutete, dass es Mick, nachdem er nun gesellschaftlich etabliert war, darum ging, in der sozialen Hierarchie weiter aufzusteigen (und Marianne Faithfull konnte ihm zweifellos helfen, ein paar Stufen weiter emporzuklimmen). Wahrscheinlicher ist allerdings, dass aus der Beziehung zwischen Jagger und Shrimpton, auf die sich die beiden eingelassen hatten, als sie noch sehr unerfahren waren, inzwischen die Luft raus war. Shrimpton, die eine Zeit lang für Oldham und das Stones-Label Decca gearbeitet hatte, fühlte sich von ihrem beruflich komplett in Anspruch genommenen Partner mehr und mehr entfremdet. Durch das ständige Touren und die permanenten Versuchungen, denen sich der Sänger ausgesetzt sah, wurde die Verbindung zwischen ihnen mehr und mehr zerrüttet. Seit dem Tag, als Mick Jagger Marianne Faithfull zum ersten Mal gesehen hat, muss er sich wohl nach einer Freundin gesehnt haben, die nicht unablässig Bestätigung fordert. Für einen Teenager schien Faithfull außergewöhnlich unabhängig zu sein. Jemand wie sie würde ihn sicher nicht nur verstehen und mit seinem Leben Schritt halten können, sondern ihm eventuell auch helfen, sich von der stickigen, engen Bluesszene zu emanzipieren und ein neues London zu entdecken: das der Wohlhabenden und Intellektuellen. Er wird sich vorgestellt haben, wie sie ihm sagt, welche Bücher er lesen, welche Gemälde er sich anschauen und welche Filme er sehen muss. Und in seiner Fantasie wird sie ihm geholfen haben, erwachsener zu werden, ohne zu verlangen, dass er der allgemein verpönten Musik und ihrer Szene, die ihm beide viel bedeuteten, den Rücken kehrte. Seine Studienzeit an der LSE und der kürzlich unternommene Ausflug in die bessere New Yorker Gesellschaft hatten ihm einen Einblick in ihre Welt gewährt, und was er gesehen hatte, hatte ihm durchaus gefallen. Mit Marianne Faithfull an seiner Seite, könnte sich Mick in eine Art modernen Lord Byron verwandeln – der ewig suchende Romantiker –, während er zugleich mit seinen Kumpels abhängen, Billard spielen und durch die Kneipen ziehen konnte. Das wäre doch absolut großartig, wird Mick gedacht haben. Diese Idealvorstellung ließ ihn von dem Augenblick an, als er Marianne zum ersten Mal gesehen hatte, nicht mehr los, und er setzte alles daran, sie wahr werden zu lassen. Micks Interesse an Marianne war nicht allein sexueller Natur, für ihn war sie auch so etwas wie ein Schlüssel zu seinem neuen Selbst. Mit der poetischen, romantischen Bildsprache in »As Tears Go By« gelang es ihm womöglich unbewusst, dieses Selbst aus seinem Kokon zu befreien.
Als Oldham Mick und Keith aufforderte, einen Song für Marianne zu schreiben, nannte er kein konkretes Beispiel, auf das sie zurückgreifen konnten, sondern artikulierte nur eine ziemlich vage Idee: »Ich will einen Song, der von Backsteinmauern und hohen Fenstern umgeben ist, und in dem es nicht um Sex geht«. In »As Tears Go By« schlug sich eine Mischung aus Micks Frustration, seiner Fantasie und seiner Intelligenz nieder. Was er schrieb, trieb ihn damals noch nicht selbst um, aber wie alle großen Künstler konnte er etwas, von dem er wusste, dass es andere Menschen bewegte, überzeugend präsentieren. Es war nicht seine eigene Wahrheit, die sich darin offenbarte, sondern eine universelle. Nur eine Gitarre und jede Menge Zigaretten hatten Mick und Keith dabei, als sie den Song schrieben, eingesperrt in die Küche des Apartments, in dem sie damals alle wohnten.
Shrimpton ließ man nicht an sie heran, während sie schrieben. Keith zupfte die Akkorde, Mick summte die Melodie und kritzelte den Text mit Bleistift auf ein Blatt Papier. Keiths Akkordwechsel hatten etwas geradezu Zwingendes, Forderndes, während Micks Lyrics überraschend sanft und nachdenklich waren. Sie nannten den Song »As Time Goes By«, waren jedoch etwas unsicher wegen der namentlichen Übereinstimmung mit der berühmten Ballade aus dem Filmklassiker Casablanca . »Was habt ihr zustande gebracht?«, fragte Oldham, als er am Morgen zu ihnen in die Küche kam. »Mick, der total
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