Mick Jagger: Rebell und Rockstar
der vergangenen Jahre. Sie brauchten eine Philosophie. 1965 verlangte man so etwas plötzlich von den Rock’n’Rollern. »Die Popstars der späten 50er- und frühen 60er-Jahre waren Kids aus der Arbeiterklasse, die auf den fahrenden Elvis-Zug aufgesprungen sind«, sagte Keith Altham. »Sie waren sechzehn, siebzehn. Die meisten von ihnen hatten kaum eine nennenswerte Schulbildung genossen. Die Beatles und die Rolling Stones waren da schon etwas gebildeter. Das waren Jungs, die ihre A-Levels gemacht oder wie Jagger sogar an einer renommierten Universität studiert hatten. Die neuen Popstars hatten eine eigene Meinung, und dementsprechend kam das auch in den Interviews zum Tragen. Bob Dylan war vermutlich ein wichtiger Auslöser dafür.« Dylan hatte 65 etliche Hits und zahlreiche Fans im Teenageralter, aber die Journalisten stellten ihm Fragen, wie sie sie auch Politikern hätten stellen können. Worum es in seinen Texten gehe? Wogegen er protestiere? Woran er glaube? Wie auch die Beatles fanden Mick, Keith und Brian Jones Dylan sowohl faszinierend als auch einschüchternd, wurde Dylan doch als Dichter und allgemeine Autorität verehrt. Viele meinten, Beatgruppen wie die Stones seien bei Weitem nicht so kultiviert wie er. Und sogar Dylan selbst zog sie auf mit seinem berühmt-berüchtigten Ausspruch: »Ich hätte auch ›Satisfaction‹ schreiben können, aber ihr niemals ›Blowin’ in the Wind‹.«
Im Winter 65 – die Stones waren gerade drei Jahre im Geschäft, sowohl Mick als auch Keith hatten soeben ihr erstes eigenes Domizil bezogen, nachdem sie zunächst mit Brian, später mit Oldham und Micks Freundin Chrissie Shrimpton zusammen gewohnt hatten – wurden die Stones als eine Horde marodierender Droogs vermarktet; Dylan war kultiviert, also mussten sie primitiv sein.
Oldham verleugnete Micks und Keiths bürgerliche Herkunft so gut es ging. »Er sorgte immer dafür, dass wir so brutal und unangenehm rüberkamen wie möglich«, so Mick. Er plante sogar ein düsteres Stones-Äquivalent zu den Beatles-Alben A Hard Day’s Night und Help unter dem Titel des Romans Uhrwerk Orange von Anthony Burgess (leider gelang es ihm nicht, sich die entsprechenden Rechte zu sichern). Während Dylans Manager, der herrische und brummige Albert Grossman, seinen Schützling von der Welt abschottete, betrachtete es Oldham als seine Aufgabe, den Sittenwächtern des Establishments seine fünf langhaarigen Handgranaten mit voller Wucht vor die Füße zu werfen. »Uns war von Anfang an klar, dass wir junge Leute ansprechen«, erklärte er damals einem Reporter des NME , »und dass wir, wenn wir uns voll und ganz für deren Freiheit einsetzen, diejenigen, die wir dabei links liegen lassen, vor den Kopf stoßen. Wir haben uns auf die Seite der Jungen geschlagen, statt auf die der Alten, das ist alles. Die Alten haben uns das verübelt. Die Stones sind immer noch die sozialen Außenseiter, die Rebellen. Wir haben uns gedacht, wenn wir dem Konformismus in den Arsch treten, können wir das ruhig mit beiden Füßen tun.« Es war Oldham, der die in der Art eines Beatpoeten geschriebenen Covertexte auf den Alben verfasste, und er war es auch, der darauf achtete, dass die Stones ihr anmaßendes Gebaren und die mal überhebliche, mal anzügliche Mimik gezielt einsetzten, um die Welt der jungen Generation deutlich von der der alten abzugrenzen. Den Umgang mit den britischen Medien beherrschten die Stones so meisterhaft, dass man in der Tin Pan Alley nur davon träumen konnte, derart große Publicity zu bekommen.
Man könnte darüber streiten, ob das stärkste philosophische Statement von Jagger im Jahr 1965 »I can’t get no satisfaction« war oder der Satz »Wir pissen, wo wir wollen, Mann«, mit dem er in einer bitterkalten Nacht vor einer Tankstelle brillierte, wo man ihm den Zugang zur Toilette verwehrt hatte. Das soll in keiner Weise den Wert des genialen »(I Can’t Get No) Satisfaction« schmälern, das viel zu lange bis zum Umfallen gespielt wurde, mit dem Effekt, dass man es heute kaum noch hört. Legt es am besten gleich mal auf, um euch wieder klarzumachen, was für ein wirklich mitreißender Song das ist. Natürlich sagt das jeder über »( I Can’t Get No) Satisfaction«. Die Nummer führt derart regelmäßig alle Best-of-Listen an, dass man den Eindruck gewinnen könnte, es sei gar nicht mehr nötig, selbst noch mal reinzuhören. Dennoch war es wie eine erfrischende Brise als er im Sommer 2010 in einer Folge der amerikanischen
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