Mick Jagger: Rebell und Rockstar
TV-Serie Mad Men zu hören war (die uns in den Sommer 65 zurückversetzt und den Frust des kettenrauchenden Don Dapers über wertlose Informationen hervorragend untermalt). »Oh ja! Dieser Song.« Aber ganz gleich, was für eine Alpha-Nummer er ist, was für ein Kunstwerk er darstellt, letzten Endes ist »(I Can’t Get No) Satisfaction« nichts weiter als ein Song. »Wir pissen, wo wir wollen« ist eine Ideologie.
Der Vorfall, der in diesem glorreichen Statement gipfelte, dauerte kaum mehr als zwei Minuten und war damit fast so lang wie ein guter Popsong, dennoch war er weitaus einflussreicher und politischer als alle Stones-Hits, die ihm folgten. »Wir pissen, wo wir wollen« wurde am 18. März 1965 »veröffentlicht« und kletterte innerhalb eines Tages bis an die Spitze der »Charts«, wo er genau die Aufmerksamkeit erregte, durch die die Stones – ähnlich wie Dylan – von Popstars zu Politikern wurden. Sie waren jetzt die »Sprecher« der »Ich-tue-was-ich-will-Fraktion«, wie Altham ein Jahr darauf in einem NME -Artikel schrieb.
Über die ganze Geschichte ist oft genug berichtet worden und die Details sind eigentlich kaum von Belang, dennoch soll hier noch einmal kurz zusammengefasst werden, was sich aller Wahrscheinlichkeit nach zugetragen hat: Die Stones, die kurz vor den Winterferien wieder einmal einen Nummer-eins-Hit gelandet hatten – diesmal mit einer Coverversion des Willie-Dixon-Songs »Litte Red Rooster« –, befanden sich auf der Heimfahrt von einem ausverkauften Gig in einem Romforder Kino, bei dem es wie so oft recht turbulent zugegangen war. Es war kurz nach Mitternacht und eisig kalt. Alle fünf saßen zusammengepfercht in ihrem schwarzen Tour-Benz.
Als sie einen natürlichen Drang verspürten, legten sie bei einer Tankstelle in Stratford, nicht weit entfernt von London, eine Pause ein. Zunächst benahmen sie sich durchaus zivilisiert. Bill Wyman bat den Tankwart, einen eins a Saubermann namens Charles Keeley, ihm den Weg zur Toilette zu zeigen, während die anderen ihre müden Glieder reckten. Wie viele seiner Generation wusste Keeley zwar, wer die Stones waren, hatte sich aber noch nicht näher mit ihnen befasst. Er hatte die ganze Nacht über in der Kälte gestanden und zu dieser späten Stunde keine Lust mehr, sich mit Leuten ihres Kalibers rumzuschlagen. Er drängte die Truppe dazu, sich wieder in den Wagen zu setzen und weiterzufahren. Als sie sich beschwerten, übernahm Jagger die Rolle des Wortführers, drängte Keeley zur Seite und sagte: »Wir pissen, wo wir wollen, Mann.«
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Blödelei mit der Bluesharp in den RCA Studios in Los Angeles, 1965.
In seiner Zeugenaussage gab Keeley zu Protokoll, dass er im Dunklen von einer Horde »zotteliger, behaarter Monster« umzingelt worden sei, die unisono gegrölt haben sollen: »Wir pissen, wo wir wollen! Wir pissen, wo wir wollen!« »Einer hat zu dem Singsang sogar getanzt«, erinnerte sich Keeley. Als wollte er die gegrölte Unabhängigkeitserklärung durch eine entschlossene Tat unterstreichen, öffnete Wyman seinen Hosenschlitz und urinierte gegen das Tankstellenhäuschen. Anschließend zwängten sich die Stones wieder in den Benz, verabschiedeten sich von Keeley mit einer unmissverständlichen Geste und düsten ab. Wie sich die ganze Geschichte tatsächlich zugetragen hat, lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren. So heißt es beispielsweise, Brian Jones sei der Urheber des Bonmots gewesen und an der Tankstelle hätten neben Bill Wymann auch Brian und Mick ihre kleine Notdurft verrichtet.
Wie dem auch sei, kurz nachdem Keeley den Vorfall bei der Polizei gemeldet hatte, erhielten die Stones eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch und eine gerichtliche Vorladung. Der zuständige Amtsrichter bezeichnete sie als »Schwachköpfe« und machte ihnen Vorhaltungen wegen ihrer langen Haare, ihrer »verdreckten« Kleidung und ihres »clownesken Verhaltens«.
Dieser Ausbruch war für Mick, der ansonsten durch seine stets beherrschte Art auffiel, ganz und gar untypisch. Möglicherweise war es ihm einmal schwergefallen, sich zusammenzureißen. Vermutlich war sein Adrenalinspiegel sehr hoch; nach diesem stressigen Gig – einem von vielen auf den endlos langen Promotiontouren der Stones – hatte er diesen Überschuss womöglich noch nicht abgebaut. Doch ob typisch oder nicht, die Geschichte verbreitete sich rasch in der ganzen westlichen Welt – sowohl in der Presse als auch unter
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