Mick Jagger: Rebell und Rockstar
Besitz des Muschelhorns. Der Druck, sich selbst in kreativer Hinsicht ständig überbieten zu müssen, der bereits erwähnte LSD-Dauerrausch, der seinen Verstand Ende 1967 bereits zu einem Großteil nachhaltig vernebelt hatte, und der fortwährende Verfolgungswahn standen jeder Form der Selbstbeherrschung im Wege. Eine Führungsrolle bei den Stones einzunehmen, war ihm bald gar nicht mehr möglich.
Als Anita Pallenberg anfing, sich um Filmrollen zu bemühen, und ihre plötzliche Bekanntheit als Freundin eines Rolling Stones gezielt einsetzte, um Regisseure wie Volker Schlöndorff (der ihr neben dem britischen Schauspieler David Warner eine Rolle in Michael Kohlhaas – Der Rebell gab) auf sich aufmerksam zu machen, nahm Brian Jones’ Paranoia vollends erschreckende Ausmaße an.
Brian Jones wusste, dass es genug attraktive Schauspieler gab, an die er Anita verlieren konnte. Er wusste auch, dass sowohl Mick als auch Keith ein Auge auf sie geworfen hatten, wodurch seine Eifersucht noch verstärkt wurde. War er auch ohne dieses Wissen mental bereits ziemlich am Ende, wurde es nun absolut verheerend. Seinen Bandkollegen blieben die körperlichen Misshandlungen, die er Anita Pallenberg zufügte, kaum noch verborgen. Keith war völlig entsetzt und entschlossen, sie aus dieser Hölle zu befreien.
Als er sich kurz nach der Redlands-Razzia während einer Auszeit in Marokko tatsächlich an Anita ranmachte, war er noch nicht der Keith, den wir heute kennen. Auf Bildern und in Filmen aus der Zeit vor seiner Anita-Phase, in denen er eher ungelenk und übermütig Gitarre spielt, wirkt er fast etwas freakig und debil, eher wie ein Buddy-Holly-Typ als wie der furchtlose Rock’n’Roll-Pirat, zu dem er wurde, nachdem er in Anitas Klamotten geschlüpft war, ihre Drogen genommen und ihre »Dämonen« zu seinen gemacht hatte. Mick wohnte immer noch mit Marianne Faithfull in Chelsea. Die beiden dachten darüber nach, eine Familie zu gründen. Als er Chrissie Shrimpton fallengelassen und Marianne Faithfulls Herz erobert hatte, hatte er erreicht, was er erreichen wollte. Er war jetzt ein einflussreiches Mitglied der Londoner Gesellschaft, hatte gute Beziehungen und konnte mühelos Kontakte zu Dichtern, Malern, Kunst- und Antiquitätenhändlern sowie zu progressiven Parlamentsabgeordneten knüpfen. Jetzt jedoch war Keith im Besitz des Muschelhorns.
»Ich fand, Keith hatte enormes Talent, aber Keith war damals ein wirklich schüchterner kleiner Junge, der nicht aus sich herausgehen konnte. Ich war hingegen sehr extrovertiert, mit meinem italienischen Temperament fiel mir das alles sehr leicht«, sagte Anita Pallenberg einmal. »Und irgendwie wurde der Schalter bei ihm dann plötzlich umgelegt. Er begann, Songs zu schreiben und sie selbst zu singen. Ich fand das einfach wunderbar.« Die letzte von Keith gesungene Stones-Nummer war das fröhlich-ironische »Something Happened to Me Yesterday« gewesen, ein hintersinniger Song über Drogenmissbrauch. Es war das letzte Stück sowohl auf der amerikanischen als auch der britischen Pressung von Between the Buttons , dem Aftermath -Nachfolger. Jetzt schrieb Keith an einer neuen Bluesnummer, dem von Anita Pallenberg inspirierten »You Got the Silver«, die perfekt zu seiner Stimmlage passte – nicht zu der von Mick. Hatte Mick nun die Befürchtung, dass Keith ihm den Part des Leadsängers eventuell streitig machen wollte? Wahrscheinlich nicht, aber unstrittig ist, dass es eine Verschiebung im internen Machtgefüge der Band gab. Keith war bislang nicht sonderlich in Erscheinung getreten. Jetzt war er überlebensgroß, ebenso wie Mick und wie es Brian Jones einst gewesen war. Aber jetzt musste er mit all den Eifersüchteleien und dem ganzen Aberglauben fertig werden, den der Besitz des Muschelhorns mit sich brachte.
Anita Pallenberg war eine unterschätzte Schauspielerin mit einem großen komödiantischen Talent, die ihre Hoffnung auf den großen Durchbruch im Filmgeschäft nicht aufgab. Sie war viel zu selbstständig, um sich mit dem Status als Rockerbraut und Beraterin der Stones zufrieden zu geben. Sie übernahm die Rolle der Schwarzen Königin in Roger Vadims erotischer Science-Fiction-Farce Barbarella und mimte damit die Gegenfigur zu der von Vadims Ehefrau Jane Fonda gespielten Titelheldin. »Was kriegst du dafür?«, fragte ein beunruhigter Keith, als er erfuhr, dass sie zu den Dreharbeiten nach Frankreich reisen musste. »Ich geb dir das Geld.« Sie lehnte das Angebot ab, und nachdem sie
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