Mickey Haller 04 - Der fünfte Zeuge
gefunden worden war. Roberts hatte den Spurensicherungsteams angehört, die beide Orte untersucht hatten. Aber ich nahm an, dass sie darauf verzichten würde. Sie hatte ihre Falldarstellung auf das letzte Beweisstück zugeschnitten, und jetzt ihr Vorgehen zu ändern, hätte sie aus dem Rhythmus gebracht und ihrer Argumentation den Schwung und die finale Wucht genommen, wenn sich die Einzelteile zu einem Gesamtbild zusammenfügen sollten. Um dieses Risiko einzugehen, war sie zu clever. Lieber steckte sie jetzt ein paar Treffer ein, um später im Prozess umso vernichtender zum K.o. ansetzen zu können.
»Ms. Freeman, möchten Sie den Zeugen noch einmal verhören?«, fragte der Richter, sobald ich an meinen Platz zurückgekehrt war.
»Nein, Euer Ehren.«
»Der Zeuge darf den Zeugenstand verlassen.«
Ich hatte Freemans Zeugenliste an die Innenseite des Deckels der Prozessakte geheftet, die vor mir auf dem Tisch lag. Ich strich die Namen Abbott und Roberts durch und überflog die Namen, die noch übrig waren. Der erste Prozesstag war noch nicht einmal ganz vorbei, und die Liste war bereits stark ausgedünnt. Die verbleibenden Namen legten den Schluss nahe, dass als nächster Zeuge Detective Kurlen aufgerufen würde. Das stellte für die Staatsanwältin allerdings ein gewisses Problem dar. Ich sah auf die Uhr. Es war 16:25 Uhr und die Verhandlung sollte um 17 Uhr enden. Wenn Freeman Kurlen jetzt in den Zeugenstand rief, könnte er erst richtig zur Sache kommen, wenn der Richter die Verhandlung auf den nächsten Morgen vertagte. Möglicherweise konnte sie ihn zwar zu einer Enthüllung lotsen, bei der es von Vorteil wäre, wenn sie sich über Nacht in den Köpfen der Geschworenen festsetzte, aber da dies unter Umständen eine Umstellung der Abfolge von Kurlens Aussage erforderte, konnte ich mir auch bei diesem Punkt nicht vorstellen, dass ihr das die Sache wert wäre.
Ich überflog die Liste noch einmal, ob vielleicht ein Springer darauf war, ein Zeuge, den sie an jeder beliebigen Stelle ihrer Beweisführung einschieben konnte. Ich fand jedoch keinen und schaute gespannt zum Tisch der Anklage hinüber. Was würde Freeman als Nächstes tun?
»Ms. Freeman«, drängte der Richter. »Rufen Sie bitte Ihren nächsten Zeugen auf.«
Freeman erhob sich von ihrem Sitz und richtete sich an Perry.
»Euer Ehren, es steht zu erwarten, dass der Zeuge, den ich als Nächstes aufrufen möchte, sowohl bei der Vernehmung als auch im Kreuzverhör ausführliche Aussagen zu Protokoll geben wird. Deshalb möchte ich an die Nachsicht des Gerichts appellieren und um Erlaubnis bitten, den Zeugen erst morgen bei Verhandlungsbeginn aufrufen zu dürfen, damit die Geschworenen seine Aussage in einem Stück und ohne Unterbrechung hören können.«
Der Richter blickte über Freemans Kopf hinweg auf die Uhr an der Rückwand des Saals. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Nein«, erklärte er. »Nein, das werden wir nicht tun. Wir haben noch mehr als eine halbe Stunde Zeit und werden sie auch nutzen. Rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf, Ms. Freeman.«
»Ja, Euer Ehren«, sagte Freeman. »Das Volk ruft Gilbert Modesto in den Zeugenstand.«
Was den Springer anging, hatte ich mich getäuscht. Modesto war Leiter der firmeneigenen Sicherheitsabteilung von WestLand National, und offensichtlich glaubte Freeman, seine Aussage an jeder beliebigen Stelle des Prozesses einflechten zu können, ohne dass es sich nachteilig auf Schwung und Fluss ihrer Falldarstellung auswirkte.
Nachdem er eingeschworen worden war und im Zeugenstand Platz genommen hatte, schilderte Modesto seinen beruflichen Werdegang und seinen aktuellen Aufgabenbereich bei WestLand National. Dann lenkte Freeman ihre Fragen auf die Maßnahmen, die er am Morgen von Bondurants Ermordung ergriffen hatte.
»Als ich hörte, dass es Mitch war, habe ich als Erstes die Bedrohungsakte rausgesucht, um sie der Polizei zu geben«, sagte er.
»Was ist die Bedrohungsakte?«, fragte Freeman.
»Diese Akte enthält jede per Post oder Mail hereinkommende Drohung gegen die Bank oder einen ihrer Mitarbeiter. Außerdem sind darin alle Drohungen vermerkt, die telefonisch eingehen oder von denen wir von Dritten, wie etwa der Polizei, erfahren. Wir haben feste Kriterien, wie ernst diese Drohungen jeweils einzustufen sind, und es gibt Namen, die besonders hervorgehoben werden, und dergleichen mehr.«
»Wie gut sind Sie persönlich mit dieser Bedrohungsakte vertraut?«
»Sehr gut. Ich gehe sie regelmäßig
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