Mickey Haller 04 - Der fünfte Zeuge
Staat ist immer im Vorteil, und häufig reicht nicht einmal eine Glanzleistung des Verteidigers aus, um gegen ihn anzukommen.
Richter Perry ging sofort zur Belehrung der Geschworenen über und las ihnen seine letzten Anweisungen vor. Das waren nicht nur die Regeln, nach denen sie über das Urteil beraten sollten, sondern auch spezielle Instruktionen zum aktuellen Fall. Er ging sehr ausführlich auf Louis Opparizio ein und schärfte den Geschworenen ein, seine Aussage bei ihren Beratungen nicht zu berücksichtigen.
Die richterliche Anleitung dauerte fast genauso lang wie mein Schlussplädoyer, aber kurz nach fünfzehn Uhr schickte Perry die zwölf Geschworenen schließlich in das Beratungszimmer, damit sie sich an die Arbeit machten. Ich beobachtete entspannt, um nicht zu sagen zuversichtlich, wie sie einer nach dem anderen durch die Tür verschwanden. Ich hatte meine Mandantin auf bestmögliche Weise verteidigt. Dabei hatte ich zweifellos gegen Regeln verstoßen und Paragraphen gedehnt und mir auch selbst einige Blößen gegeben. Nicht nur in rechtlicher Hinsicht, sondern auch in einem wesentlich elementareren Sinn. Ich hatte mir eine Blöße gegeben, weil ich zu glauben begonnen hatte, meine Mandantin könnte unschuldig sein.
Sobald sich die Tür zum Beratungszimmer geschlossen hatte, blickte ich zu Lisa hinüber. Ich entdeckte keine Angst in ihren Augen, und wieder einmal ließ ich mich darauf ein. Sie war sich bereits sicher, wie das Urteil ausfallen würde. Kein Zweifel war in ihrer Miene.
»Was glauben Sie?«, flüsterte mir Aronson zu.
»Ich würde sagen, unsere Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, jedenfalls deutlich besser als sonst üblich, vor allem bei einem Mord. Wir werden sehen.«
Der Richter vergewisserte sich, dass die Protokollführerin die Handynummern aller Beteiligten hatte, und wies sie an, sich für den Fall, dass die Geschworenen bereits an diesem Nachmittag zu einer Entscheidung kommen sollten, nicht weiter als fünfzehn Minuten vom Gericht zu entfernen. Dann vertagte er die Verhandlung. Meine Kanzlei lag innerhalb dieser Zone, weshalb wir beschlossen, uns dorthin zurückzuziehen. In einem Anfall von Optimismus und Großzügigkeit gestattete ich Lisa sogar, Herb Dahl mitzunehmen. Ich vermutete, dass es mir zufiele, sie über den Verrat ihres Schutzengels aufzuklären, aber dieses Gespräch wollte ich mir für einen anderen Tag aufsparen.
Als das Verteidigungsteam auf den Flur hinausging, strömten die Medienvertreter sofort um uns zusammen und forderten von Lisa oder zumindest mir lautstark einen Kommentar. Hinter der Menschentraube sah ich Maggie an der Wand lehnen. Meine Tochter saß neben ihr auf einer Bank und schrieb eine SMS auf ihrem Handy. Ich bat Aronson, sich um die Reporter zu kümmern, und stahl mich davon.
»Ich?«, protestierte Aronson.
»Sie wissen doch, was Sie sagen müssen. Sehen Sie nur zu, dass Lisa nichts redet. Jedenfalls so lange nicht, bis wir ein Urteil haben.«
Ich winkte zwei Reporter fort, die mir folgten, und erreichte Maggie und Hayley. Ich täuschte eine kurze Bewegung nach links an und küsste meine Tochter auf die rechte Wange, bevor sie ausweichen konnte.
»Daaaad!«
Ich richtete mich auf und sah Maggie an. Über ihre Lippen spielte ein verhaltenes Lächeln.
»Du hast sie meinetwegen aus der Schule genommen?«
»Ich fand, sie sollte heute hier sein.«
Das war ein enormes Entgegenkommen.
»Danke«, sagte ich. »Und wie fandet ihr es?«
»Ich glaube, du könntest in der Antarktis Eis verkaufen«, sagte sie.
Ich grinste.
»Aber das heißt nicht, dass du gewinnen wirst«, fügte sie hinzu.
Ich runzelte die Stirn.
»Vielen Dank.«
»Ich bitte dich, was erwartest du von mir anderes? Ich bin Staatsanwältin. Ich will nicht, dass die Schuldigen freikommen.«
»Da sehe ich in diesem Fall kein Problem.«
»Du musst wahrscheinlich glauben, was du glauben musst.«
Mein Lächeln kehrte zurück. Ich sah zu meiner Tochter und stellte fest, dass sie wieder SMS schrieb und wie üblich unserer Unterhaltung nicht folgte.
»Hat Freeman gestern mit dir gesprochen?«
»Meinst du, wegen der Nummer, die du gestern mit Opparizio abgezogen hast? Ja. Du spielst nicht fair, Haller.«
»Es ist ja auch kein faires Spiel. Hat sie dir erzählt, was sie danach zu mir gesagt hat?«
»Nein, was?«
»Nicht so wichtig. Sie lag jedenfalls falsch damit.«
Maggie runzelte die Stirn. Ihre Neugier war geweckt.
»Erzähl ich dir später«, sagte ich. »Wir gehen alle in
Weitere Kostenlose Bücher