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Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc

Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc

Titel: Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: jojox
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und

    begrüßte mich an der Küchentür. Ich dankte dem Polizisten mit dem kräftigsten Händedruck, der mir möglich war. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass er meinetwegen Überstunden gemacht hatte. Er kniete nieder und sagte mit tiefer Stimme: »David, es waren Kinder wie du, die in mir damals den Wunsch geweckt haben, 42

    Polizist zu werden.« Ohne nachzudenken, schlang ich meine Arme um seinen Hals. Sofort brannten sie wie Feuer. Aber das war mir egal. »Vielen, vielen Dank, Sir.«
    »Hey, keine Ursache, mein Junge«, antwortete er.
    Dann ging er langsam den kurvigen Gehweg hinauf und grüßte mich nochmals vom Auto aus, ehe er davonfuhr.
    Ich kannte nicht mal seinen Namen.
    Nachdem Tante Mary mir ein köstliches
    Seezungenfilet serviert hatte, stellte sie mich den sieben anderen Kindern vor, die wie ich aus den verschiedensten Gründen nicht mehr bei ihren Eltern lebten. Ich starrte jedem ins Gesicht. Manche blickten hohl, manche sorgenvoll, andere verwirrt. Ich hatte keine Ahnung, dass es noch andere unerwünschte Kinder gab; jahrelang hatte ich das Gefühl gehabt, damit ganz allein zu stehen. Zunächst verhielt ich mich schüchtern, aber nach ein paar Fragen der anderen Kinder öffnete ich mich. »Weshalb bist du denn hier?«, fragten sie. »Wie ist es dir ergangen?«
    Ich senkte den Kopf, ehe ich antwortete, dass meine Mutter mich nicht gemocht habe, weil ich immer Probleme hatte. Ich schämte mich. Ich wollte ihnen das Geheimnis von Mutter und mir nicht verraten. Doch kei-nem machte das irgendwas aus. Ich war einfach nur ein weiteres Gesicht in der Menge. Ich wurde sofort auf-und angenommen. Ich spürte eine enorme Energie in meinem

    Innern aufsteigen und war von diesem Augenblick an ein wildes Kind. Ich sauste durch das Haus, als hätte ich Feuer unterm Hintern. Ich scherzte, lachte und schrie vor Freude. Ich ließ die vielen Jahre der Einsamkeit und Stille aus mir heraus.

    43

    Ich war unkontrollierbar. Ich rannte von einem Zimmer ins nächste und sprang auf jeder Matratze im ganzen Haus herum. Ich hüpfte so hoch, dass ich mir den Kopf immer wieder an der Decke stieß. Doch ich hörte nicht eher auf, als bis ich Sterne sah. Das war mir egal. Die anderen Kinder klatschten und stachelten mich weiter an. Ihr Lachen war nicht kalt und höhnisch, wie ich es von meiner alten Schule kannte, sondern voller Freude und Anerkennung.
    Doch mein Herumtoben endete ganz plötzlich, als ich durchs Wohnzimmer lief und dabei fast eine Lampe über den Haufen gerannt hätte. Reflexartig griff Tante Mary nach meinem Arm. Sie wollte gerade mit mir zu schimpfen beginnen, als sie zu mir hinabsah. Ich bedeckte mein Gesicht, und meine Knie fingen an zu zittern. Tante Mary war eine strikte, schon etwas ältere Frau, die sich die Butter nicht vom Brot nehmen ließ, aber sie schrie mich nicht an, wie sie es sonst wohl getan hätte. An diesem Abend endete meine Hyperaktivität so schnell, wie die Luft aus einem Luftballon entweicht. Tante Mary ließ mich los, kniete sich vor mir hin und fragte: »Was hat sie dir getan?«
    »Es tut mir Leid«, stotterte ich leise. Ich wusste immer noch nicht genau, welche Absichten Tante Mary verfolgte. Ich zog mich in meine Schutzhaltung zurück.
    »Ich war ein schlechter Junge, und ich habe verdient, was ich bekommen habe! «
    Später am Abend brachte mich Tante Mary zu Bett.

    Ich begann zu weinen und erklärte ihr, ich hätte Angst, dass Mutter kommen und mich wegholen würde. Aber sie versicherte mir, dass ich sicher sei. Sie blieb bei mir, bis ich mich auch sicher fühlte. Ich starrte zur dunklen 44

    Zedernholzdecke auf, die mich an das alte Blockhaus in Guerneville erinnerte, und schlief in dem Bewusstsein ein, dass Mutter irgendwo da draußen nur darauf wartete, mich zu kriegen.
    Als ich in meinen Träumen allein mit mir war, fand ich mich am Ende eines langen, dunklen Korridors stehend wieder. Am entgegengesetzten Ende tauchte eine Schattenfigur auf. Sie verwandelte sich in Mutter. Sie begann auf mich zuzugehen. Aus irgendeinem Grund blieb ich still stehen. Ich konnte mich nicht bewegen, versuchte es nicht mal. Je näher Mutter kam, desto deutlicher rückte ihr rotes, hasserfülltes Gesicht in den Blickpunkt. Mutter hielt ein glänzendes Messer über sich, jederzeit bereit, mich niederzustechen. Ich drehte mich um und rannte den endlosen Gang entlang. Mit aller Kraft bewegte ich die Beine, so schnell ich konnte, und suchte nach einem Licht. Ich rannte pausenlos. Der Gang verwinkelte

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