Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
sich und bekam neue Richtungen, als ich nach einem Ausweg suchte. Ich konnte Mutters widerlichen Atem im Nacken spüren und ihre kalte Stimme hören, die litaneiartig wiederholte, dass es keinen Ausweg gebe und dass sie mich niemals gehen lassen würde.
Ich schreckte aus meinem Traum hoch. Mein Gesicht und meine Brust waren mit kaltem, klebrigem Schweiß bedeckt. Ich wusste nicht, ob ich noch träumte, und bedeckte mein Gesicht. Als sich mein Atem beruhigte, schaute ich mich in panischer Angst um. Ich war noch 45
immer in dem Raum mit der Zedernholzdecke und hatte immer noch den Schlafanzug an, den mir Tante Mary geliehen hatte. Ich tastete mich ab, um zu spüren, ob ich verwundet war. Ein Traum, sagte ich mir schließlich, ein Albtraum, weiter nichts. Ich versuchte, ganz ruhig zu atmen, aber ich konnte die Angstvision nicht loswerden.
Mutters Worte hallten unentwegt in meinem Kopf wider:
»Ich werde dich niemals gehen lassen. Nie! «
Ich sprang aus dem Bett, suchte in der Dunkelheit nach meiner Kleidung und zog sie an. Ich kehrte zum Kopfende des Bettes zurück und presste die Knie an die Brust. Ich konnte nicht wieder einschlafen. Da wohnte Mutter jetzt - in meinen Träumen. Ich hatte das Gefühl, es sei nur ein Fehler gewesen, dass ich ihr weggenommen wurde. Und ich wusste, dass man mich bald wieder zu ihr zurückbringen würde. In jener Nacht und auch in den folgenden Nächten hielt ich mich, während die anderen schliefen, an meinen Knien fest und schaukelte hin und her. Dabei summte ich mir etwas vor. Ich starrte durch das Fenster und lauschte, wie die Bäume in der Abendbrise hin und her schwankten. Und ich sagte mir, in diesen Albtraum würde ich nie wieder verfallen.
Meine erste Begegnung mit dem Kreisjugendamt erfolgte durch einen Engel namens Ms. Gold. Ihr langes, glänzendes blondes Haar und ihr strahlendes Gesicht machten ihrem Namen alle Ehre. »Guten Tag«, sagte sie lächelnd. »Ich bin deine Betreuerin.« Und so begannen die langen, sich hinziehenden Sitzungen, in denen ich Dinge erklären sollte, die ich nicht völlig verstand. Zu Beginn unserer ersten Zusammenkunft kauerte ich mich am entfernten Ende des Sofas hin, während Ms. Gold am anderen Ende saß.
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Ohne dass ich es merkte, schob sie sich immer näher an mich heran, bis sie nahe genug war, um meine Hand zu halten. Doch zunächst war ich noch viel zu verschreckt, um ihr zu gestatten, mich zu berühren. Ich hatte ihre Freundlichkeit einfach nicht verdient. Doch Ms. Gold hielt weiter meine Hand und streichelte sie.
Sie versicherte mir, dass sie dazu da sei, mir zu helfen.
An jenem Tag blieb sie über fünf Stunden bei mir.
Die anderen Besuche dauerten genauso lange.
Manchmal hatte ich zu viel Angst, um zu reden, und so folgten lange Augenblicke des Schweigens. Bei anderen Gelegenheiten brach ich plötzlich grundlos in Tränen aus, ohne zu verstehen, warum. Doch das störte Ms. Gold nicht. Sie hielt mich einfach fest und wiegte mich hin und her, und sie flüsterte mir ins Ohr, dass schon alles gut werden würde. Manchmal lag sie am Ende der Couch und ich erzählte von Dingen, die zu meiner schlimmen Vergangenheit überhaupt keinen Bezug hatten. Dann spielte ich mit den langen Strähnen von Ms. Golds glänzendem Haar. Ich lag in ihren Armen und atmete den Duft ihres blumigen Parfüms ein. Schon bald begann ich Ms. Gold zu vertrauen.
Sie wurde meine beste Freundin. Wann immer ich nach der Schule ihr Auto sah, sprang ich freudig erregt den Gehweg hinab zu Tante Marys Haus, denn ich wusste, dass Ms. Gold gekommen, war, um mich zu besuchen. Wir beendeten unsere Sitzungen immer mit einer langen Umarmung. Dann beugte sie sich zu mir herab und versicherte mir, ich hätte es nicht verdient gehabt, so behandelt zu werden, wie ich behandelt wurde. Was meine Mutter mir angetan habe, sei nicht mein Fehler gewesen. Was Ms. Gold da sagte, hatte ich auch früher schon von ihr
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gehört, aber nach jahrelanger Gehirnwäsche war ich mir dessen nicht mehr so sicher. So viel hatte sich so schnell verändert. Einmal fragte ich Ms. Gold, warum sie denn all diese Informationen über Mutter und mich benötige. Zu meinem Schrecken erfuhr ich, dass der Landkreis diese Informationen gegen meine Mutter verwenden werde. »Nein!« flehte ich sie an. »Das darf sie nie erfahren, dass ich Ihnen das erzählt habe!
Niemals!«
Ms. Gold versicherte mir, dass ich das Richtige täte, aber als sie mich mit meinen Gedanken allein ließ, kam ich zu einem anderen
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