Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
auf meinen Händen sitzen würde, hungrig - wie ein hungriges Tier. Ich
wusste nicht, ob ich in ein solches Leben noch einmal zurückkehren könnte. Ich wollte einfach nur frei sein von Schmerzen und Unwürdigkeiten.
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»David?«, flüsterte Ms. Gold, als sie mich anstieß.
»David, der Richter möchte, dass du aufstehst.«
Ich musste meine Gedanken erst wachrütteln, denn ich war abermals fast eingeschlafen. »Was? Ich verstehe nicht ...
Ms. Gold ergriff meinen Ellbogen. »Na los, David. Der Richter wartet.«
Ich starrte zum Richter hinauf, der mich durch Zunicken aufforderte aufzustehen. Meine Kehle fühlte sich an, als würde ein Apfel darin stecken. Als ich meinen Stuhl nach hinten stieß, streichelte Ms. Gold meine linke Hand: »Es ist alles in Ordnung. Sag dem Richter nur die Wahrheit. «
»Nun, junger Mann«, begann der Richter, »worauf die ganze Sache hinausläuft, ist Folgendes: Wenn das Gericht es so will und wenn du glaubst, dass für dich das Leben zu Hause nicht wünschenswert ist, ... dann kannst du der Amtsvormundschaft unterstellt werden.
Du kannst aber auch zurückkehren und weiterhin bei deiner Mutter deinen Wohnsitz nehmen.«
Meine Augen weiteten sich. Ich konnte nicht glauben, dass der Augenblick der Entscheidung jetzt gekommen war. Einhellig wandten sich alle Personen in dem kleinen Raum mir zu. Eine Dame mit grauweißem Haar hielt ihre Finger direkt über der Tastatur einer seltsam aussehenden Schreibmaschine. Jedesmal wenn jemand sprach, drückte die Frau Tasten herunter. Ich schluckte heftig und presste meine Hände zusammen.
Von rechts konnte ich spüren, wie Mutters Hassradar Strahlen auszusenden begann.
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Ich versuchte, den Richter anzusehen. Ich schluckte nochmals hart, ehe ich beginnen wollte, mein einstudiertes Verslein aufzusagen: dass ich gelogen hätte, dass ich wirklich all die Probleme zu Hause selbst verursacht hätte und dass Mutter mich niemals misshandelt hätte. Aus dem rechten Augenwinkel konnte ich sehen, dass Mutters Augen fest auf mich gerichtet waren.
Die Zeit stand still. Ich schloss meine Augen und stellte mir vor, wie ich mit Mutter >nach Hause< fuhr. Dort würde sie mich dann gleich schlagen und ich wäre wieder gezwungen, am Fuß der Treppe zu leben, in steter Angst vor dem zweiten Werbeblock im Fernsehen und mit dem Wunsch, eines Tages entfliehen zu können und ein normales Kind zu werden, dem es gestattet war, frei von Angst zu sein, draußen zu spielen und ...
Ohne dass es Ms. Gold wusste, wandte ich mich ihr zu und atmete wieder tief ein. Plötzlich drang es in mein Bewusstsein - Ms. Golds Parfüm. Es war dasselbe Parfüm, das ich gerochen hatte, wann immer sie mich umarmt oder in ihren Armen gehalten hatte, wenn wir zusammen am Ende des Sofas lagen. Ich sah mich, wie ich mit ihrem Haar spielte.
Die Welt in meinem Kopf änderte sich und ich konnte mich draußen sehen, wie ich mit den anderen Kindern lachte, Basketball oder Verstecken spielte, wie ich mit Überschallgeschwindigkeit durch Tante Marys Haus rannte. Wie ich dann am Abend von draußen reingeholt wurde, nachdem ich Schlangen gejagt oder am Bach gespielt hatte. Ich öffnete meine Augen und blickte verstohlen auf meine Hände. Sie waren nicht länger rot, sondern leicht gebräunt.
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Ich konnte spüren, wie mich Mutters Radar durch-bohrte. Ich fühlte, wie ich mich selbst nach rechts lehnte und wie mir massive Angst den Rücken hinaufkroch. Ich inhalierte ein weiteres Wölkchen von Ms. Golds Parfüm.
Eine flüchtige Sekunde lang hielt ich meinen Atem an, und dann platzte es, bevor mich der Mut endgültig verließ, aus mir heraus: »Bei Ihnen, Sir! Ich möchte bei Ihnen wohnen! Es tut mir Leid! Es tut mir ja wirklich so Leid! Ich wollte nichts verraten! Ich wollte keine Probleme machen! «
Mutters Hassradar wurde intensiver. Ich versuchte, stehen zu bleiben, aber meine Knie wurden langsam weich.
»Dann soll es so geschehen«, verkündete der Richter schnell. »Dieses Gericht empfiehlt, dass der minderjährige David James Pelzer bis zu seinem 18.
Geburtstag unter die Vormundschaft des Gerichts gestellt wird. Der Fall ist geschlossen! «, verkündete der Richter schnell und schlug mit seinem Hammer auf ein Stück Holz.
Ich fühlte mich wie gelähmt. Ich war mir nicht sicher, was da gerade geschehen war. Ms. Gold sprang auf und umarmte mich so heftig, dass ich glaubte, sie würde mir alle Rippen brechen. Alles was ich noch sehen konnte, war eine blonde Mähne, und ich konnte
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