Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
sanft meine Hand, umgab sie mit ihren langen Fingern und führte mich zur Cafeteria. Wir schlenderten an den anderen Autos und an ein paar zerstreuten Bäumen vorbei. Der Geruch der Bäume drang in meine Nase. Dann hielt ich an, um in die Sonne zu schauen. Ich blieb einen Augenblick stehen, um meine Umgebung in mich aufzunehmen. Ein sanfter Wind wehte mir durchs Haar. Ich zitterte nicht. Das Gras hatte eine leuchtend gelbgrüne Farbe. Ich wusste, dass meine Welt jetzt anders war.
Ms. Gold blieb ebenfalls stehen, um in die Sonne zu schauen. »Na, David, alles in Ordnung?«
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»Ja!«, sagte ich lächelnd. »Ich möchte nur diesen ersten Tag nicht vergessen, an dem der Rest meines Lebens begonnen hat! «
4. KAPITEL
Ein neuer Anfang
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Als die Aufregungen der Gerichtsverhandlung abge-klungen waren, stumpfte mein Inneres ab.
Mir war zwar völlig klar, dass Mutter mir körperlich nicht mehr weh tun konnte, aber ich hatte trotzdem das gespenstische Gefühl, dass sie irgendwo da draußen lauerte, aufgerollt wie eine Klapperschlange und stets bereit, zurückzuschlagen und Rache zu nehmen.
Ein anderer Teil meiner selbst indes hatte das Gefühl, ich würde Mutter und meine Brüder nie wieder sehen.
Ich wurde verwirrt, hatte das Gefühl, es nicht verdient zu haben, mit ihnen zusammenzuleben: Ich war ihrer nicht würdig und Mutter hatte mich weggeworfen. Ich versuchte mein Bestes, mir einzureden, dass ich durch ein Wunder, in Gestalt der Sozialdienste des Kreises und des Gerichtssystems, in die Lage versetzt worden 74
sei, mein Leben neu zu beginnen. Ich versuchte mein Bestes, um die Vergangenheit zu isolieren und meine schlimmen Erfahrungen tief in meinem Herzen zu begraben. Ich stellte mir lebhaft vor, wie ich meine ganze Vergangenheit einfach ausknipste, wie mit einem Lichtschalter.
Ich gewöhnte mich schnell an die Routine in Tante Marys Haus und an meine neue Schule. Obwohl ich bei Tante Mary spontan, lebendig und ungezwungen war, war ich im Kreis meiner Schulkameraden immer noch leblos und schüchtern. Es fiel mir offenbar schwer, neue Freundschaften zu schließen. Ich war Außenseiter, zumal wenn Kinder fragten, warum ich denn nicht bei meinen Eltern lebte. Immer wenn irgendwelche Klassenkameraden hartnäckig nachfragten, fing ich an zu stottern und wandte mich ab. Ich konnte ihnen nicht in die Augen sehen.
Bei anderen Gelegenheiten sagte ich einfach zufrieden: »Ich bin ein Pflegekind!« Ich war stolz darauf, zu meiner neuen Familie zu gehören. Doch als ich begann, diesen Spruch ständig zu wiederholen, nahm mich eines Tages eines der älteren Pflegekinder in der Schule beiseite und warnte mich, ich solle niemandem sagen, was ich sei, denn »... viele Leute mögen uns Pflegekinder nicht«.
»>Uns Pflegekinder?<«, fragte ich. »Was meinst du damit? Wir haben doch nichts Schlimmes getan.«
»Wart's ab, kleiner Bruder. Das wirst du schon noch früh genug selbst herausfinden. Bleib einfach cool und halt deinen Mund.« Ich gehorchte und verstand, dass ich nun in einer Welt lebte, in der andere Vorurteile galten.
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In der Pause beobachtete ich die anderen Kinder, wie sie lachend Fangen oder Handball spielten, während ich mich abseits hielt. Sosehr ich mich auch bemühte, die Erinnerungen zu verdrängen, meine Gedanken wanderten immer wieder zu meiner alten Schule in Daly City zurück. Ich dachte an Mr. Ziegler und seine belebten Sonnen mit glücklichen Gesichtern, die er auf meine Arbeiten malte. Ich dachte an Mrs. Woodworth und ihre allseits gefürchteten Diktate oder an den Gang in die Schulbibliothek, wo Ms. Howell »In Octopus's Garden« von den Beatles auf ihrem Plattenspieler auflegte.
In meiner neuen Schule hatte ich das Interesse am Unterricht völlig verloren. Ich ging längst nicht mehr so in meinen Fächern auf wie noch ein paar Wochen zuvor. Halb geistesabwesend saß ich hinter meinem Schulpult aus grauem Stahl, kritzelte auf meinem Papier herum und zählte die Minuten bis zum Ende des Schultags. Was einst mein Schutzraum gewesen war, wurde mir nun schon bald zum Gefängnis, das mich am Spielen in meiner neuen Pflegefamilie hinderte. Je unkonzentrierter ich wurde, desto mehr veränderte sich auch meine Handschrift: Einst war sie sauber und elegant gewesen, jetzt ein Gekritzel.
In Tante Marys Haus sorgten mein seltsamer Sinn für Humor und meine naive Erregbarkeit dafür, dass mich die älteren Pflegekinder sehr gern mochten. Wann immer einige von ihnen die Erlaubnis erhielten, für den
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