Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
kritzelte ich eine kurze Notiz:
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An Mutter
Es tut mir ja so Leid. Ich habe nicht gewollt, dass es so weit kommt. Ich wollte das Geheimnis nicht verraten.
Ich wollte der Familie nicht schaden. Kannst du mir je verzeihen? Dein Sohn David
Ms. Gold las die Notiz und nickte, was heißen sollte, dass ich gehen durfte, um Mutter die Notiz zu übergeben. Ich schlurfte zu Mutter und wurde dabei wieder das Kind namens >Es< - mit Händen an der Hosennaht und zu Boden gewandtem Gesicht. Ich wartete darauf, dass Mutter etwas sagte, mich anschrie, mit den Fingern schnipste - einfach irgendetwas. Aber sie nahm meine Gegenwart überhaupt nicht zur Kenntnis. Ich hob meinen Kopf leicht an, so dass meine Augen auf ihrem Körper ruhten, und streckte meine Hand mit der Notiz aus. Mutter nahm das Papier, las es und riss es dann in zwei Stücke. Ich beugte meinen Kopf nach unten, ehe ich wieder zu Ms. Gold ging, die ihren Arm um meine Schultern legte.
Einige Minuten später gingen Ms. Gold, Mutter, meine vier Brüder und ich im Gänsemarsch in den Gerichtssaal. Ich nahm hinter einem dunklen Tisch Platz und starrte ehrfürchtig den Mann über mir an. Er hatte eine schwarze Robe an. »Keine Angst!«, flüsterte Ms. Gold.
»Der Richter stellt dir vielleicht ein paar Fragen. Es ist wichtig, sehr wichtig, dass du ihm die Wahrheit sagst«, sagte sie, wobei sie dem letzten Teil ihres Satzes besonderen Nachdruck verlieh.
Weil ich wusste, dass in den nächsten Minuten endgültig über mein Schicksal entschieden würde, legte ich meine Hand auf Ms. Golds Hand und trommelte nervös darauf herum. »Es tut mir Leid, dass ich Ihnen so viel Scherereien bereitet habe ... « Ich wollte ihr die 64
Wahrheit sagen - die wirkliche Wahrheit -, aber ich hatte nicht den Mut dazu. Der Schlafmangel hatte mir meine ganze innere Stärke genommen. Ms. Gold lächelte mich aufmunternd an, wobei sie ihre perlweißen Zähne zeigte. Ein feiner und doch vertrauter Duft stieg mir zu Kopf. Ich schloss meine Augen und tat einen tiefen Atemzug ...
Ehe ich wusste, was los war, begann die Justizangestellte eine Nummer zu verlesen und meinen Namen zu nennen. Als ich meinen Namen hörte, schreckte ich auf und blickte den Richter unverwandt an, der seine Brille zurechtrückte und zu mir herabsah.
»Ja, der ... äh ... der Fall Pelzer. Ja. Ich nehme an, dass die Vertreterin des Landkreises anwesend ist?«, fragte der Richter.
Ms. Gold räusperte sich und zwinkerte mir zu. »Auf geht's. Drück mir die Daumen!«
Der Richter nickte Ms. Gold zu. »Was empfehlen Sie? «
»Danke, Euer Ehren. Wie dem Gericht aufgrund der ausführlichen Untersuchungsergebnisse des Kinderarztes, aufgrund von Befragungen der ehemaligen Lehrer des Minderjährigen, aufgrund anderer Interviews und meiner eigenen Berichte bestens bekannt ist, empfiehlt das Kreisjugendamt, David Pelzer unter Amtsvormundschaft zu stellen. «
Ich blickte zu Ms. Gold auf. Ich konnte ihre Stimme kaum hören. Ich wusste, dass sie redete, aber ihre Stimme
war brüchig. Ich warf einen Blick auf ihren Rock. Ihre Knie zitterten. Ich kniff meine Augen zu. »Oh mein 65
Gott«, sagte ich zu mir selbst. Als ich meine Augen wieder öffnete, kehrte Ms. Gold auf ihren Platz zurück. Sie versuchte, ihre zitternden Hände zu verbergen.
»Mrs. Pelzer? Möchten Sie eine Stellungnahme abgeben?«, fragte der Richter.
Alle Köpfe wandten sich nach rechts zu Mutter.
Zunächst dachte ich, Mutter würde den Richter nicht hören. Sie starrte einfach ausdruckslos zu seiner Bank hinauf. Doch nach einigen Sekunden wurde mir klar, was Mutter gerade probierte. Sie versuchte, den Richter mit Blicken in die Defensive zu drängen.
»Äh ... Mrs. Pelzer? Wollen Sie zu Ihrem Sohn David Pelzer eine Stellungnahme abgeben?«
»Ich habe nichts zu sagen«, sagte Mutter mit tonloser Stimme.
Der Richter rieb sich die Stirn, dann schüttelte er den Kopf. »Dies ist ein sehr beunruhigender, sehr ungewöhnlicher Fall. Ich habe alle Aussagen und Unterlagen gründlich durchgelesen. Was mir besondere Probleme bereitet, ist ...«
Ich verlor mein Zeitgefühl, als der Richter mit seinen langen Ausführungen begann. Ich fühlte, wie ich innerlich immer mehr zusammenschrumpfte. Ich wusste, dass das Verfahren in wenigen Minuten vorüber sein würde, und dann wäre ich wieder bei Mutter. Ich blickte nach rechts, um sie anzusehen. Mutters Gesicht war kalt und versteinert. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich wieder am Fuß der Garagentreppe
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