Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
Nachmittag Tante Marys Haus zu verlassen, durfte ich in ihrem Schlepptau mitgehen. Manchmal stahlen sie Süßigkeiten beim Kaufmann im Ort oder in den Supermärkten. Weil ich ganz einer der ihren werden wollte und schon über jahrelange Erfahrung im Stehlen von Nahrungsmitteln verfügte, schloss ich mich ihrem 76
Tun sofort an. Wenn jemand zwei Zuckerstangen stahl, stahl ich gleich vier. Das fiel mir so leicht, dass ich schon nach ein paar Nachmittagsausflügen innerhalb der Gruppe einen legendären Ruf hatte. Ich war mir völlig darüber im Klaren, dass ich etwas Unrechtes tat.
Auch wusste ich, dass mich einige der älteren Jungen nur benutzten, aber das war mir egal. Nach jahrelanger Isolation wurde ich endlich in einer Gruppe akzeptiert.
Auch im Haus meiner Pflegefamilie begann ich zu stehlen. Ich wartete, bis alle draußen waren, schlich dann in
die Küche, nahm mir einige Scheiben Brot und versteckte sie unter meinem Kopfkissen. Spätabends saß ich dann aufrecht im Bett und knabberte an meiner Beute, so wie Mäuse an einem Stück Käse nagen.
Eines Sonntagnachmittags hatte ich keine Lust mehr auf Brot und stahl aus dem Kühlschrank einige Kuchenstücke. Doch am frühen Morgen wachte ich auf und sah, dass eine Ameisenstraße direkt zum Kopfende meines Bettes führte. So schnell und so leise ich konnte, schlich ich auf Zehenspitzen zur Toilette und spülte meinen kostbaren Schatz samt Ameisen fort.
Als Tante Mary am nächsten Tag unsere Lunchpakete für die Schule fertig machte, merkte sie, dass der Kuchen fehlte. Doch sie verdächtigte Teresa, eines der älteren Pflegekinder.
Obwohl Teresa heftig beschimpft wurde und an diesem Tag nach der Schule Stubenarrest hatte, sagte ich nichts. In Tante Marys Haus stahl ich ja nicht, weil ich den Nervenkitzel brauchte, sondern weil ich mir ein Vorratslager anlegen wollte für den Fall, dass ich je Hunger bekäme.
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Tante Mary brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass für das Verschwinden der Nahrungsmittel ich verantwortlich war. Von da an warf sie zu Hause immer ein wachsames Auge auf mich, und meine
nachmittäglichen Abenteuer wurden auf ein Minimum beschränkt. Zuerst schämte ich mich, weil ich ihr Vertrauen und ihre Freundlichkeit ausgenutzt hatte.
Doch andererseits war es mir völlig egal, was Tante Mary, die »alte Jungfer«, von mir dachte. Mir ging es einzig und allein darum, von den älteren Pflegekindern hundertprozentig akzeptiert zu werden.
Bei Tante Mary war ich wahrscheinlich schon längst nicht mehr wohlgelitten, als ich in der ersten Juliwoche bei meiner ersten dauerhaften Pflegefamilie untergebracht wurde. Wie damals, als mich der Polizist zum ersten Mal zu Tante Mary gebracht hatte, konnte ich es gar nicht erwarten, mein neues Zuhause zu sehen. Meine neue Pflegemutter, Lilian Catanze, begrüßte Ms. Gold und mich an der Tür. Als ich Mrs.
Catanze und Ms. Gold auf der breiten, offenen Treppe folgte, die ins Wohnzimmer führte, umklammerte ich die braune Einkaufstüte, in der sich all meine Habseligkeiten befanden. Bereits am Abend zuvor hatte ich diese Tüte sorgfältig gepackt und immer in meiner Nähe behalten.
Aus Erfahrung wusste ich, dass ich Dinge, die ich vergäße, nie wieder sehen würde. Ich war regelrecht schockiert gewesen, als ich zum ersten Mal mitbekam, wie sich Pflegekinder in hektisch aktive Raubtiere verwandelten, wenn ein Kind Tante Marys Haus für immer verließ. Innerhalb von Sekunden durchkämmten die anderen das betreffende Zimmer und schauten unter dem Bett nach, in Schränken und Wäschekörben, wirklich überall - auf der Suche nach Kleidung, 78
Spielsachen und anderen Wertgegenständen. Die begehrteste Trophäe war ein Geldversteck. Ich bekam schnell heraus, dass es unerheblich war, ob die Diebe die betreffenden Sachen selber brauchten oder gar begehrten. Einen Gegenstand, irgendetwas, zu besitzen bedeutete, dass man handeln konnte - dass man ihn gegen Haushaltspflichten, einen Nachtisch um Mitternacht im Bett oder gar gegen Geld eintauschen konnte. Wie üblich passte ich mich schnell an und machte mit bei der Jagd, wann immer ein Kind das Haus verließ. Ich lernte, dass es besser war, statt ein scheidendes Kind zum Auto zu begleiten, ihm persönlich alles Gute zu wünschen und zum Abschied zu winken, sich lieber schon im Haus zu verabschieden ... und dann in der Nähe des Zimmers zu bleiben, in dem das Kind gewohnt hatte. Dadurch hatte man nämlich gegenüber den anderen Kindern einen Startvorteil.
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