Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
sehen, die mich damals gerettet hatten, legte sich schnell wieder. Erst als Gordon mit seinem Auto in die entgegengesetzte. Richtung der Schule fuhr, konnte ich wieder ein wenig leichter atmen.
Ich hatte das Gefühl, als wäre ich wieder in die Vergangenheit eingetaucht, als der Chevy Nova sich Straßen hinaufquälte, an denen Häuser standen, die 218
genauso aussahen wie Mutters Haus an der Crestline Avenue. Ich konnte gar nicht glauben, wie klein sie aussahen. Und doch fühlte ich mich seltsamerweise sicher. Ich lächelte, als ich die hohen Palmen in den Vorgärten der einstöckigen Häuser bewunderte, die mir jetzt so winzig erschienen. Ich konnte gar nicht glauben, dass seit meiner Rettung schon fast zwei Jahre vergangen waren. Ich kurbelte das Fenster runter, schloss meine Augen und atmete die feuchte, kühle Luft ein.
Gordon parkte das Auto oben auf einem steilen Hügel. Ich folgte ihm eine rote Treppe hinauf zu einem Haus, das ganz genauso aussah wie Mutters. Als die Haustür aufging, fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Gordon beugte sich zu mir herüber. »Alles in Ordnung mit dir? Du hast doch keine Vorurteile, oder?«
Ich schüttelte den Kopf, aber den Mund bekam ich so schnell nicht wieder zu. »Vorurteile?«, fragte ich. Ich war noch nie bei schwarzen Pflegeeltern gewesen. Eine große Frau schüttelte meine Hand und stellte sich als Vera vor. Ich nahm schon ganz automatisch meine Position auf dem Sofa im Wohnzimmer ein, während Gordon und Vera in der Küche miteinander sprachen.
Meine Augen wanderten in alle Richtungen, durchsuchten alle Ecken und tasteten alles in Veras Wohnung ab. Der Grundriss schien genau identisch zu sein. Ich erinnerte mich, dass die Wände in Mutters Haus meistens nach dem dichten Zigarettenrauch stanken, der einem die Luft nahm, aber auch nach Tierurin. Veras Wohnung dagegen wirkte offen und sauber. Je länger ich diese Wohnung anstarrte, desto mehr musste ich lächeln.
Ein paar Minuten später saß Gordon bei mir auf der Couch. Er hatte mir seine Hand auf das Knie gelegt und 219
warnte mich, dass Mutters Haus mitsamt einem Umkreis von anderthalb Kilometern absolut tabu sei. Ich nickte mit dem Kopf. Was Gordons Anordnung sollte, war mir klar. Aber ich hatte trotzdem Angst, dass Mutter mich finden würde. »Werden Sie ihr sagen, wo ich jetzt wohne?«
»Nun«, begann Gordon, nach den richtigen Worten suchend, »gesetzlich bin ich nur verpflichtet, deine Mutter davon zu unterrichten, dass du dich im Stadtgebiet aufhältst. Und darüber hinaus sehe ich wirklich keine Notwendigkeit, ihr noch irgendwas zu sagen. Wie du weißt, gehöre ich nicht gerade zu ihren Fans. « Doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck: »Um Himmels willen, achte unbedingt darauf, dass du ihr, verdammt noch mal, aus dem Weg gehst! Habe ich mich klar genug ausgedrückt? «
»Glasklar«, erwiderte ich salutierend.
Gordon schlug mir spielerisch aufs Knie und erhob sich vom Sofa. Ich brachte ihn noch zur Tür und schüttelte ihm zum Abschied die Hand. Dass Gordon mich in einem fremden Haus verließ, gehörte zu den schlimmsten, aber vertrautesten Aspekten unserer Beziehung. Ich hatte dann eigentlich immer etwas Angst, und er schien es stets zu spüren. »Hier wird es dir gut gehen. Die Jones' sind gute Leute. Ich komme in ein paar Wochen wieder bei dir vorbei. «
Vera schloss die Tür leise hinter Gordon, und dann führte sie mich den engen Flur entlang. »Es tut mir Leid, aber wir haben nicht mit dir gerechnet«, erklärte sie mit freundlicher Stimme, als sie am Ende des Ganges die Tür zu einem Zimmer öffnete. Ich betrat ein leeres Zimmer mit weißen Wänden, in dem sich nur eine Doppelmatratze an der einen Seite der Wand und eine Sprungfedermatratze an der anderen Seite 220
befanden. Zögernd erklärte Vera, dass ich das Zimmer mit ihrem jüngeren Sohn teilen müsste. Ich setzte ein falsches Lächeln auf, als sie mich in dem Zimmer allein ließ. Ganz langsam holte ich meine verknitterten Sachen aus der Tüte und stapelte sie am Kopfende meines Sprungfederbettes säuberlich in kleinen Haufen. Ich schlug die Zeit tot, indem ich meine Sachen so anordnete, als kämen sie jetzt in eine Kommode. Plötzlich schloss ich die Augen und weinte innerlich bei dem Gedanken, nie wieder bei den Catanzes wohnen zu dürfen.
Später am Nachmittag wurde ich dann den sieben anderen Pflegekindern im Teenageralter vorgestellt, die in einem provisorisch hergerichteten Raum in der Garage wohnten. Da waren
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