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Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc

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Titel: Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: jojox
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habe?«, sagte Russell mit schleppender Stimme. »Es sieht schlimm aus. Ich meine, wirklich schlimm. Sie wütet nur noch herum. Sie trinkt mehr als je zuvor. Alles, was sie tut, ist mehr und stärker als früher«, sagte Russell und starrte wieder auf seine Schuhe.
    »Ich kann dir helfen!«, sagte ich aufrichtig. »Wirklich, ich kann's!«
    »Ich ... äh, ich muss jetzt los.« Russell drehte sich um und ging fort. Aber dann blieb er stehen und wandte sich nochmals um. »Wir können uns ja morgen nach der Schule wieder hier treffen.« Und plötzlich schenkte er mir ein breites Lächeln. »Hey, Mann ... das war wirklich schön, dass ich dich getroffen habe.«
    Ich ging auf ihn zu. Ich fühlte den überwältigenden Drang, ihm nahe zu sein. Ich streckte meine Hände aus. »Danke, Mann. Bis bald!«
    Später sagte ich lächelnd zu Carlos: »Das war mein Bruder. «
    Carlos nickte. »Si, hermano! Si!« (Ja, Bruder! Ja!) Den ganzen Rest des Nachmittags musste ich an Russell denken. Ich konnte es gar nicht erwarten, ihn am nächsten Tag wieder zu sehen. Aber was kann ich wirklich tun? fragte ich mich selbst. Würde Russell mit mir zu Jody und Vera kommen, damit Jody die Polizei rufen könnte, die Russell dann so retten würde wie mich damals? Oder bildete ich mir nur ein, dass die Wundmale auf Russells Armen auf Misshandlungen zurückzuführen waren, während sie in Wirklichkeit daher kamen, dass er zu wild gespielt hatte? Vielleicht, ging es mir durch den Kopf, versuchte Russell ja auch nur, mich reinzulegen - so wie er es vor Jahren getan hatte, als er Zuckerstangen in meinen Sachen versteckt 224

    hatte und dann mit der Behauptung, er hätte mich beim Stehlen erwischt, zu Mutter gerannt war. Anschließend hatte er dann mit Genugtuung beobachten können, wie ich für mein Verbrechen die »gerechte« Strafe erhielt.
    Mutter hatte Russell dazu erzogen, ihr Spion zu sein.
    Allerdings war auch zu bedenken, dass er damals noch ein kleiner Junge gewesen war.
    In dieser Nacht wälzte ich mich in meinem Bett hin und her. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
    Irgendwann gegen Morgen schlief ich doch noch ein.
    Aber in meinen Träumen wartete ich plötzlich auf sie.
    Ich drehte den Kopf zur Seite, als ich Mutter heftig atmen hörte. Unsere Augen trafen sich einen Moment lang. Ich sah mich vor mir, wie ich auf sie zuging. Ich wollte mit ihr reden, sie fragen - sie inständig bitten -, warum ich, warum Russell? Mein Mund bewegte sich, aber die Worte blieben stecken. In
    Sekundenbruchteilen wurde Mutters Gesicht plötzlich kirschrot. »Nein!«, schrie ich mich selber an. »Du kannst doch nicht immer so weitermachen! Das ist aus und vorbei!« Plötzlich tauchte über Mutters Kopf das glänzende Messer auf, scharf wie ein Rasierklinge. Ich versuchte, kehrtzumachen, aber meine Füße reagierten nicht. Ich versuchte, Mutter wegzuschreien. Meine Augen folgten dem Messer, als es aus ihren Händen flog. Ich wusste, dass ich tot war. Ich schrie um mein Leben, aber ich konnte meinen Schrecken nicht hören.
    Mein Kopf prallte vom Fußboden zurück. Ich mühte mich ab, auf die Beine zu kommen. Allein stand ich da in einem dunklen Raum und war mir nicht sicher, ob ich wach war oder immer noch träumte. Ich strengte meine Augen an und versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Das Herz schlug mir bis zum Halse.
    »Mein Gott!«, sagte ich mir. »Was ist, wenn ich immer 225

    noch dort, bei ihr bin?«. Doch als ich hörte, wie Jodys Sohn in seinem Bett schnarchte, ließ ich die Luft aus meinen Lungen entweichen. Ich griff mir ein Kleidungsstück, presste es an meine Brust und wartete, bis sie Sonne aufging.
    Am nächsten Tag nach Schulschluss zog ich Carlos fast mit Gewalt zur Thomas-Edison-Grundschule. »Das ist keine gute Idee«, sagte Carlos. »Deine mamasita, sie ist loca!«, sagte er und tippte dabei mit dem Finger auf die Stirn. Ich nickte zustimmend. Nach meinem Alptraum hatte ich jedoch beschlossen, dass nichts mich davon abhalten könne, Russell wieder zu sehen.
    Carlos und ich hielten im selben Korridor an wie am Vortag. Eine Gruppe Kinder kreischte und schrie, als sie durch unsere Beine zu rennen schien. Als die Kinder, die aus der Schule kamen, langsam größer wurden, verdrehte ich meinen Hals, als ich nach Russell Ausschau hielt. Schließlich erspähten ihn meine Augen am entgegengesetzten Ende des Foyers. Er blickte zu Boden. »Russell!«, schrie ich. »Hier bin ich!«
    Russells Kopf schnellte hoch, aber anders als am Vortag suchte er

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