Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
fahren. Statt des Taschengeldes in Höhe von 2,5o Dollar, das ich bei den Catanzes bekommen hatte, ließ sie stolz zwei Vierteldollarstücke in meine Hand plumpsen. »Gib's aber nicht alles auf einmal aus«, warnte sie mich.
»Oh, keine Sorge, das tue ich nicht«, versicherte ich ihr. Aber im Stillen fragte ich mich, was ich mit zwei mickrigen Quarters überhaupt anstellen könnte.
Weil Joanne mich so einengte, verbrachte ich die meiste Zeit damit, in ihrem Haus herumzuwandern. Das Wohnzimmer war mit allen möglichen Sachen aus dem AVON-Katalog vollgestopft. Ich verbrachte Stunden damit, Tausende von Artikeln anzuschauen. Am frühen Nachmittag war es mir bereits so langweilig, dass ich mich vor dem Fernsehapparat niederließ und Zeichentrickfilme anschaute. Und wenn mir die zum Hals raushingen, schleppte ich mich in mein Zimmer und malte Zeichnungen in einem Malbuch aus, das sie mir geschenkt hatte.
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Wie damals, als ich noch bei Mutter lebte, hatte ich anscheinend ein feines Gespür dafür, wann dicke Luft war. Selbst bei geschlossener Zimmertür konnte ich hören, wie unterdrückte Auseinandersetzungen sich zu wüsten Schlachten entwickelten. Mehrfach hörte ich Michael rumschreien, was ich eigentlich in seinem Haus zu suchen hätte. Ich wusste, dass die Idee, mich als Pflegekind aufzunehmen, allein von Joanne kam, weil sie einsam war, wie sie mir erzählt hatte, und keine eigenen Kinder bekommen konnte. Wann immer sich Joanne und Michael heftig stritten, schossen mir Gedanken an Vater und Mutter durch den Kopf. Ich wusste genau, dass mir physisch keine Gefahr drohte, aber ich kauerte mich dann trotzdem in die entfernteste Ecke meines Zimmers und zog mir die Decke über den Kopf. Einmal, wenige Tage vor dem Wiederbeginn der Schule, nahm die Schreierei so schlimme Formen an, dass die Fensterscheiben in meinem Zimmer vibrierten.
Am nächsten Morgen versuchte ich mit Joanne zu reden, die am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand. Ich wich den ganzen Tag nicht von ihrer Seite und beobachtete sie von der Couch aus, wie sie ihr Hochzeitsbild vor der Brust umklammert hielt und in ihrem Schaukelstuhl langsam hin und her schaukelte.
So leise ich konnte, schlich ich auf Zehenspitzen in mein Zimmer und packte meine Sachen in die ramponierte braune Einkaufstüte aus Papier. Denn mir war bereits klar, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis ich abermals würde umziehen müssen.
Indes, meine Probleme mit den Nulls traten völlig in den Hintergrund, als ich am ersten Schultag in die Parkside Junior High School kam. Groß und stolz saß ich in meiner Klasse am großen runden Tisch. Ich lächelte die anderen jungen an, die offen mit mir scherzten. Einer 214
von ihnen, Stephen, stieß mich an und behauptete, eines der Mädchen am Nebentisch starre mich dauernd an. »So?«, fragte ich. »Und was ist dabei?«
»Wenn du ein Mädchen gern hast, dann nennst du sie Horror«, erklärte Stephen.
Ich neigte meinen Kopf zur Seite. Und während ich über das Wort nachdachte, das ich laut Stefan sagen sollte, nickten die anderen jungen bekräftigend.
Nachdem meine neuen Freunde mich ausführlich präpariert hatten, versuchte ich, so cool wie möglich zu wirken, als ich mich zu dem Mädchen rüberbeugte und flüsterte: »Du bist der schönste Horror, den ich je gesehen habe.«*
* Anmerkung des Übersetzers: Anders als im Deutschen, wo unterschiedliche Artikel und ein stark voneinander abweichendes Lautbild eine Verwechslung der Wörter Horror und Hure unmöglich machen, liegen die Wörter horror und whore bei amerikanischer Aussprache sehr nahe beieinander. Das ist der springende Punkt dieser Szene.
Im ganzen Klassenraum, in dem es zuvor ständig laut gewesen war, kehrte Totenstille ein, wie in der Kirche.
Alle Köpfe waren mir zugewandt. Die Mädchen am Nebentisch pressten ihre Hände vor den Mund. Ich schluckte schwer, denn ich wusste, dass mir ein schlimmer Fauxpas unterlaufen war - mal wieder.
Nach Schulschluss drängten alle Kinder ganz schnell zur Tür des Klassenraums. Als ich selbst aus der Tür kam, schien sich die Sonne schlagartig zu verfinstern.
Ich blickte auf und starrte direkt ins Gesicht des 215
riesigsten Achtklässlers, den ich je gesehen hatte. »Wie hast du meine Schwester genannt?«, höhnte er.
Ich schluckte nochmals schwer. Ich versuchte, mir irgendeine clevere Ausrede auszudenken. Doch stattdessen gab ich der Wahrheit die Ehre. »Horror«, sagte ich mit jämmerlicher Stimme. Eine Sekunde
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