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Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc

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Titel: Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: jojox
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Matratzen in alle Ecken gequetscht, überall wo Platz war. Ein paar alte Lampen gaben dem Raum einen sanften Schein, und behelfsmäßige Bücherregale dienten dazu, alle Habseligkeiten dieser Teenager unterzubringen. Es gelang mir, all meine Ängste abzuschütteln, als ich Jody, Veras Ehemann, kennengelernt hatte, denn er kicherte wie ein Weihnachtsmann, als er mich so weit in die Höhe hob, dass ich fast mit dem Kopf an die Decke kam. Ich kapierte schnell, dass, ganz egal was gerade los war, alles schlagartig aufhörte, wenn Jody nach Hause kam, denn dann wetteiferten alle nur noch um seine Aufmerksamkeit. So beengt hier auch alles war, hier herrschte das echte Zusammengehörigkeitsgefühl einer Familie. Ich hoffte nur, dass ich hier lange genug bleiben dürfte, bis ich ihre Telefonnummer auswendig kannte.
    Mein erster Schultag an der Fernando Riviera Junior High School stellte gegenüber dem ersten Tag an der Parkside Junior High School in San Bruno eine enorme 221

    Verbesserung dar. Ich hielt den Mund und ließ den Kopf gesenkt. In der Pause versuchte ich verzweifelt herauszufinden, was aus meinen früheren Lehrern geworden war. Aber ich bekam nur heraus, dass sie auf verschiedene andere Schulen im Bezirk verteilt worden waren. Ich fühlte mich innerlich hohl und bemitleidete mich - bis ich eines Tages Freundschaft mit Carlos schloss, einem schüchternen Jungen
    lateinamerikanischer Herkunft. Wir besuchten die meisten Kurse zusammen, und in den Pausen schlenderten wir gemeinsam auf dem Schulgelände umher. Wir schienen vieles gemein zu haben, aber anders als mein »Freund« John an der Monte-CristoGrundschule war Carlos durch und durch freundlich und anständig. Weil Carlos nicht so gut Englisch konnte, hatten wir auch nicht das Gefühl, ständig miteinander schwatzen zu müssen. Doch seltsamerweise wussten Carlos und ich immer, was der andere gerade dachte, nur durch Körpersprache und Gesichtsausdruck. Schon bald waren wir unzertrennlich. Am Ende des Schultages trafen wir uns an unseren Spinden, die direkt nebeneinander lagen, damit wir uns gemeinsam auf den Heimweg machen konnten.
    Eines Tages überredete ich Carlos aus Langeweile, mit mir auf die andere Straßenseite zu gehen und der neuen Thomas-Edison-Grundschule einen Besuch abzustatten. Als Carlos und ich die Korridore entlang schlenderten, wirkten die anderen Kinder unglaublich klein und schwach. Ganze Kinderpulks rannten fröhlich lachend zum Spielplatz oder zu den im Auto wartenden Eltern. Mit zur Seite geneigtem Kopf bog ich um eine Ecke und rannte dabei fast einen größeren Jungen um.
    Sofort murmelte ich eine Entschuldigung - bis ich auf einmal merkte, dass dieser Junge mein Bruder Russell 222

    war. Einen kurzen Augenblick lang taumelte er zurück und ich sah mir seine Züge ganz genau an. Ich wusste in Sekundenschnelle, dass Russell jetzt gleich einen markerschütternden Schrei ausstoßen würde, aber ich konnte mich einfach nicht von seinem Anblick losreißen. Seine Augen flackerten. Ich fühlte, wie sich mein Körper so anspannte, wie er es immer tat, direkt bevor ich wegrannte. Mein Kopf neigte sich nach vorn, als Russells Lippen zu zittern begannen. Ich atmete tief ein und sagte mir: Also gut, David, jetzt kommt's!
    »Heiliger Strohsack! Mein Gott! David! Wo kommst du denn her ... wie zum Teufel geht's dir denn?«, fragte Russell ungläubig.
    Meine Gedanken rasten und spielten alle Optionen durch. War Russell echt? Würde er jetzt ausholen und mich schlagen, oder würde er weglaufen und Mutter erzählen, dass er mich gesehen habe? Ich wandte mich zu Carlos um, der mit den Schultern zuckte. Am liebsten hätte ich Russell ja umarmt. Plötzlich wurde mein Mund ganz trocken. »Mir, äh ... mir geht's gut«, stotterte ich kopfschüttelnd. »Und dir? Alles in Ordnung? Ich meine ... wie geht's dir denn? Wie läuft's zu Hause? Wie geht's Mutter?«
    Russells Kopf sank nach unten. Er blickte auf seine abgetragenen Turnschuhe. Ich merkte, wie abwesend er dreinschaute. Sein T-Shirt war dünn wie Papier, und seine Arme waren mit kleinen dunkel-purpurnen Malen übersät. Ich hob den Kopf und blickte ihm direkt ins Gesicht. Ich wusste Bescheid. Ich schüttelte den Kopf und wusste nicht, was ich sagen sollte. Er tat mir ja so unendlich Leid. Viele Jahre war ich die einzige Zielscheibe von Mutters Aggressionen gewesen. Jetzt stand mein Nachfolger vor mir.

    223

    »Hast du eine Ahnung, was sie tun würde, wenn sie je herausbekäme, dass ich mit dir gesprochen

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