Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
keinen Blickkontakt.
Ich spürte, wie mich jemand am Arm zog. Ich grinste Carlos an, dessen Augen in alle Richtungen Ausschau hielten. »Das nicht gut. Deine Mama, sie loca!«, warnte er mich.
»Nicht jetzt!«, sagte ich, während ich mit den Augen immer noch Russells Kopf fixierte. »Mein Bruder ... äh, si hermano! Si? Er braucht Hilfe, wie ich. Erinnerst du dich?«, sagte ich und zeigte auf Russell, der seine Schritte verlangsamte.
Ich beugte mich nach vorne, als Carlos meinen Arm festhielt. »Nein!«, rief Carlos. »Warte hier!«
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Ich schlug Carlos' Arm weg. Gegen den Strom der Kinder bahnte ich mir meinen Weg zu Russell. Noch im Gehen streckte ich meine Hand aus. Russell sah mich, aber aus irgendeinem Grund hielt er den Kopf gesenkt.
Mitten im Schritt hielt ich inne.
Meine Beine wurden weich. Mein Arm schien einfach vor mir zu hängen. Noch bevor Carlos schrie, wusste ich, dass irgendetwas absolut nicht in Ordnung war.
»Lauf, David! «, schrie Carlos. »Lauf!
Ich sah direkt über Russells Haare hinweg und sah, wie hinter ihm, ebenfalls mit gesenktem Kopf, Mutter ging. Ihre eiskalten, bösen Augen fixierten die meinigen, als ihr Gesicht in voller Größe sichtbar wurde. Die Kinder schienen um sie herum zu tanzen, ehe sie sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuten. Nur wenige Zentimeter vor mir hielt Russell an und drehte sich dann zu Mutter um, die lächelte. Ihre Hand verschwand in ihrer Handtasche, als sie mir immer noch näher kam. Für einen Sekundenbruchteil schien Mutters Gesicht zu zögern, als sie ein kleines glänzendes Metallstück daraus entnahm ...
Ich verlor das Gleichgewicht, als mein Arm zurückgerissen wurde. Ich fiel auf den Rücken; meine Augen aber waren immer noch auf Mutter gerichtet. Über mir begann Carlos, mich zurückzuziehen. Ich wusste, dass dies ein Traum sein musste, aber weil Carlos nicht locker ließ, wurde alles bittere Realität. Ich rappelte mich auf und spürte, wie Carlos' Hände mich hochzogen.
Ich blinzelte mit den Augen und sah, dass Mutters knochige Finger nach meinem Nacken griffen. Sie war so nahe, dass mir eine Wolke von ihrem üblen Körpergeruch in die Nase drang. Blitzschnell bahnten sich Carlos und ich unseren Weg durch die Massen 227
kleinerer Kinder. Als wir flohen, blickte ich zurück.
Mutter packte Russells Arm, während sie ihre Schritte beschleunigte. Carlos griff nach meiner Hand und führte mich auf den Parkplatz. Ich keuchte schwer vor Angst und aus Sauerstoffmangel. Ich schlug mit den Armen wild um mich. Ich rannte auf den Parkplatz und blickte mich erneut suchend um. Ich hielt Ausschau nach irgendeinem Zeichen von Mutter und Russell. Plötzlich, ohne Vorwarnung, stolperte ich von der Bordsteinkante.
Strauchelnd versuchte ich, meinen Kopf nach vorn zu drehen, um das Gleichgewicht wiederzugewinnen.
Doch eine Sekunde später krachte mein Brustkorb gegen die Motorhaube eines fahrenden Autos. Hinter der Windschutzscheibe riss eine Frau erschrocken die Augen weit auf. Ich spürte, wie ich vom Kühler rollte, und versuchte, mich irgendwo festzuhalten, damit ich nicht ganz hinfiel. Meine Hände prallten auf das entfernte Ende der Motorhaube. Verzweifelt versuchte ich mit den Fingern irgendetwas zu greifen, mich an den Wischerblättern festzuklammern. Ich schloss meine Augen und spürte, wie mein Körper vor das Auto sackte. Meine Ohren brannten vom Geräusch meiner eigenen Schreie.
Einen Augenblick später schlug ich mit dem Kopf auf das Pflaster auf. Ich hörte ein kreischendes Geräusch.
Ich versuchte, meinen Kopf mit meinen Händen zu schützen. Irgendwo in der Menge hörte ich jemand anders schreien. Ich schloss die Augen und ließ die Luft aus meinen Lungen. Ein paar Sekunden später nahm ich die Hände vom Gesicht und blinzelte durch meine Finger. Nur wenige Zentimeter von meiner Nase entfernt sah ich das Profil eines linken Vorderreifens.
Carlos zog mich von der Straße. Ich ließ einen Arm über seine Schulter hängen, als er mich auf den 228
Bürgersteig führte. Ich blickte auf das Auto zurück.
Eine junge Frau stieß die Autotür auf. Sie stand da und zitterte.
Ohne auch nur einen Augenblick anzuhalten, marschierte Mutter mit vollem Tempo zu ihrem Lieferwagen.
Ich brauchte kein Wort zu sagen, Carlos verstand meine Angst auch so. Meine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Und er musste mich jetzt praktisch denselben kleinen Hügel hinaufzerren, den ich vor vielen Jahren hinabgelaufen war - in Mutters
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