Middlesex
beirren zu lassen. Lefty würde abends nicht zurückkommen. Und wenn schon. Wer brauchte ihn überhaupt? Es wäre einfacher für sie, wenn er nie wiederkäme. Doch sie hatte ihrer Mutter versprochen, darauf Acht zu geben, dass er sich keine schändliche Krankheit holte oder, schlimmer noch, mit einem türkischen Mädchen durchbrannte. Die Perlen glitten, eine nach der anderen, durch Desde-monas Hände. Doch sie zählte die Schmerzen nicht mehr. Stattdessen riefen die Perlen ihr Abbildungen in einer Zeitschrift in Erinnerung, die im alten Schreibtisch ihres Vaters versteckt lag. Eine Perle war eine Frisur. Die nächste war ein Seidenschlüpfer. Die nächste ein schwarzer Büstenhalter. Meine Großmutter hatte mit Ehestiften angefangen.
Unterdessen war Lefty, einen Sack Kokons auf der Schulter, auf seinem Weg den Berg hinab. Als er die Stadt erreichte, ging er durch die Kapali Carsi Caddesi, bog an der Borsa Sokak ab und gelangte bald durch den Torbogen auf den Hof des Koza Han. Dort quollen, rings um den aquamarinblauen Brunnen, Hunderte steifer, hüfthoher Säcke von Seidenraupenkokons über. Überall drängten sich Männer, kauften, verkauften. Seit die Glocke den Markt um zehn Uhr geöffnet hatte, schrien sie, und nun waren ihre Stimmen heiser. »Guter Preis! Gute Qualität!« Lefty schob sich, seinen Sack an sich gedrückt, durch die schmalen Gänge zwischen den Kokons. Das, wovon seine Familie lebte, hatte ihn nie interessiert. Er konnte Seidenraupenkokons nicht wie seine Schwester durch Befühlen oder Riechen beurteilen. Er brachte die Kokons einzig und allein deshalb auf den Markt, weil Frauen da nicht zugelassen waren. Das Gedränge, die rempelnden Träger, die Säcke, denen man ausweichen musste, das alles strengte ihn an. Er dachte, wie schön es wäre, wenn jeder einfach einmal einen Augenblick innehalten würde, um das Leuchten zu bestaunen, das von den Kokons im Abendlicht ausging; aber das tat natürlich keiner. Sie brüllten und schmissen einander Kokons an den Kopf und logen und feilschten. Leftys Vater hatte die Beim überdachten Portikus sah Lefty einen Händler, den er kannte. Er zeigte ihm seinen Sack. Der Händler griff tief hinein und förderte einen Kokon zutage. Er tunkte ihn in eine Schale mit Wasser und prüfte ihn. Dann tunkte er ihn in einen Becher Wein.
»Aus denen muss ich Organsin machen. Die sind nicht kräftig genug.«
Lefty nahm ihm das nicht ab. Desdemonas Seide war immer die beste. Er wusste, dass er eigentlich laut werden, sich beleidigt geben, so tun sollte, als wollte er mit seiner Ware woandershin. Aber er hatte spät angefangen, gleich würde die Schlussglocke läuten. Sein Vater hatte ihm immer eingeschärft, er solle mit den Kokons nicht so spät am Tag auf den Markt gehen, weil man sie dann mit Verlust verkaufen müsse. Lefty kribbelte die Haut unter seinem neuen Anzug. Er wollte, dass der Handel endlich erledigt war. Ihm war alles peinlich: die menschliche Rasse, dass sich bei ihr alles um Geld drehte, dass sie so gern schwindelte. Ohne Widerrede akzeptierte er den Preis, den der Mann ihm genannt hatte. Sobald der Handel abgeschlossen war, eilte er vom Koza Han fort, um sich seinem eigentlichen Geschäft in der Stadt zu widmen.
Er tat nicht das, was Desdemona dachte. Passen Sie auf: Lefty schiebt seinen Homburg in eine verwegene Schräge und geht die abschüssigen Straßen Bursas entlang. Als er an einem Kaffeehaus vorbeikommt, geht er nicht hinein. Der Besitzer grüßt ihn, aber Lefty winkt nur. In der nächsten Straße kommt er an einem Fenster vorbei, hinter dessen geschlossenen Läden Frauenstimmen rufen, doch er achtet nicht auf sie, sondern folgt den mäandernden Straßen, vorbei an Obstverkäufern und Restaurants, bis er in eine andere Straße gelangt, wo er eine Kirche betritt. Genauer: eine ehemalige Moschee, deren Minarett abgerissen ist und in der die Koraninschriften übertüncht sind, sodass es genügend weißen Untergrund für die christlichen Heiligen gibt, die, auch jetzt, auf die Innenwände gemalt werden. Lefty steckt der alten Frau, die Kerzen verkauft, eine Münze zu, entzündet eine Kerze, stellt sie aufrecht in den Sand. Er setzt sich hinten in eine Bank. Und genau so, wie meine Mutter später darum bitten wird, dass ihr im Hinblick auf meine Empfängnis der Weg gewiesen werde, schaut Lefty Stephanides, mein Großonkel (unter anderem) zu dem unvollendeten Christus Pantokrator an der Decke auf. Sein Gebet beginnt mit Worten, die er als Kind gelernt
Weitere Kostenlose Bücher